Rezension von Alexander Ulfig zum Buch: Halbmondwahrheiten. Türkische Männer in Deutschland“
Isabella Kroth, Halbmondwahrheiten. Türkische Männer in Deutschland. Innenansichten einer geschlossenen Gesellschaft, München 2010. ISBN-13: 9783424350227
Rezension von Alexander Ulfig
Sie werden als Gewalttäter, Machos, Paschas oder Patriarchen bezeichnet, als Menschen, die lernunfähig sind, an ihren traditionellen Vorstellungen haften und sich in Deutschland nicht integrieren möchten. In der gegenwärtigen Integrationsdebatte werden sie als die Hauptverantwortlichen für die Integrationsprobleme betrachtet. Die Rede ist von den in Deutschland lebenden türkischen Männern.
Dass auch diese Männer Produkte und Opfer der gesellschaftlichen Verhältnisse sind, wird in dem feministisch dominierten Diskurs unserer Zeit kaum erwähnt. Denn für den Feminismus gilt: Frauen sind Opfer und Produkte der Gesellschaft. Männer und sogar Jungen werden in der Regel nicht als Produkte und Opfer der Gesellschaft dargestellt, was fundamentalen Erkenntnissen aus der Psychologie und der Soziologie widerspricht. Sie haben ihre Probleme selbst verschuldet, heißt es oft (Männer zum Beispiel ihre gesundheitlichen, Jungen ihre schulischen Probleme).
Hinter dieser einseitigen Betrachtungsweise steckt ein politisches Kalkül: Da nur Frauen als Produkte und Opfer der Gesellschaft angesehen werden, sollen nur sie in den Genuss der Gleichstellungspolitik kommen. Hilfs- und Förderprogramme sollen nur ihnen vorbehalten sein. Würde man die Realität sehen und auch Männer als Produkte und Opfer der Gesellschaft betrachten, müssten die Gleichstellungsmittel anders verteilt werden: Ein Großteil der Gleichstellungsmittel müsste auch Männern und Jungen zugute kommen. Das ist aber politisch nicht gewollt.
Die Journalistin Isabella Kroth zeigt in ihrem Buch „Halbmondwahrheiten“ die soziale Determiniertheit und die sich daraus ergebende schwierige Situation der in Deutschland lebenden türkischen Männer. Von der Hilfsorganisation „Terre des Femmes“ (einer Organisation, die sich weltweit gegen die Diskriminierung von Frauen einsetzt) erfuhr sie, dass immer wieder Männer Hilfe suchen, jedoch abgewiesen werden müssen, da es keine Mittel gibt, um ihnen zu helfen. Von der Mitarbeiterin eines Frauenhauses erfuhr sie ferner, dass der türkische Psychologe Kazim Erdogan einer der wenigen ist, der auch Männern Hilfe anbietet. Er leitet in Berliner Bezirk Neukölln jeden Montagabend eine Selbsthilfegruppe für türkische Männer.
Isabella Kroth hat in der Gruppe von Erdogan keine „geschlossene Gesellschaft“ vorgefunden. Dafür Männer, die sich darüber freuten, dass jemand für ihre Probleme und Sorgen ein offenes Ohr hatte und mit ihnen ohne Vorurteile sprach. Sie traf Männer, die aufgeschlossen und freundlich waren. Sie alle haben die Fragen der Journalistin „bereitwillig und geduldig“ beantwortet – ein Bild, das den gängigen Klischees über diese Männer ganz und gar nicht entspricht.
In zwölf Portraits erzählt sie die Leidensgeschichten dieser Männer. Da ist zum Beispiel Ahmet, ein „Import aus der Türkei“. Seine Ehe wurde von seinen Eltern arrangiert. Seine Frau hatte ihn nach der Hochzeit zu sich nach Berlin geholt. Er fand sich in einer ihm fremden Welt vor. Heute betont er: „Hätte ich damals gewusst, was auf mich zukommt – ich würde nicht noch einmal nach Deutschland kommen.“ Seine Zeugnisse waren in Berlin plötzlich nichts mehr wert. Er verstand kein Wort deutsch. Er musste sich hinter seiner Frau verstecken, die in Berlin aufgewachsen war und der beruflich alles gelang. Sie gab Ahmet Taschengeld. Dabei spürte er ihre Verachtung: „Ein Mann, der nicht in der Lage war, Geld nach Hause zu bringen, der war in ihren Augen ein Versager.“
Ahmet, der in der Türkei in einer Anwaltskanzlei arbeitete, begann in Berlin nach einiger Zeit auf einer Baustelle zu arbeiten. Er schleppte dort Betonplatten und räumte den Schutt zusammen. Sein Ziel war, trotz der Demütigungen so viel Geld zu verdienen, dass seine Frau nicht mehr arbeiten gehen müsste. Über seine Sorgen konnte er mit niemandem reden, auch nicht mit seiner Frau, die sich zurückzog, weil er ihr „unmännlich“ erschien.
Die Autorin hebt in diesem Zusammenhang hervor: „Die Probleme junger Frauen, die per Heiratsmigration nach Deutschland kommen, sind seit Jahrzehnten bekannt. Die Schwierigkeiten der Männer jedoch, die als ´Importbräutigame` nach Deutschland kommen, werden kaum erwähnt. Dabei fällt es diesen Männern in gewisser Hinsicht sogar schwerer als Frauen, sich in dem fremden Land zurechtzufinden. Denn während Frauen enger in das Netzwerk Familie eingebunden sind, müssen sich die Männer in ihrer Rolle als Ernährer behaupten. ´Importbräute` leben meist innerhalb eines geschützten Umfelds. Importierte Männer kämpfen auf dem Arbeitsmarkt mit Sprachproblemen und Orientierungslosigkeit.“
Adem heiratete mit 19 Jahren seine Cousine Ipek. Die Ehe zwischen beiden war eine „Familienangelegenheit“. Für Ipeks Eltern in der Türkei war sie eine zuverlässige Einnahmequelle. Sie erwarteten, dass Adem ihnen regelmäßig Geld schickte. Doch Adem brach ein ungeschriebenes Gesetz: Anstatt sich finanziell um die Großfamilie zu kümmern, begann er, Geld für seine eigenen Kinder zu sparen. Er wollte ihnen eine gute Ausbildung ermöglichen.
Für Ipek hatte die Ehe unter diesen Umständen keinen Sinn mehr. Sie hatte keinen Respekt mehr vor Adem, nannte ihn einen Versager, der nicht genügend Geld verdienen konnte. Sie trennte sich von ihm. Ipek und ihre Familie verbreiteten Gerüchte, dass Adem sie und die Kinder geschlagen habe und Geld verzockte. Von Ipeks Brüdern bekam er sogar Morddrohungen.
Adem wurde zum alleinerziehenden Vater. Die älteste Tochter wurde von Ipek in die Türkei mitgenommen. Ipek hatte an das Jugendamt geschrieben, dass Adem seine Tochter sexuell missbrauchte. In dieser schwierigen Situation fand er Hilfe in der Selbsthilfegruppe von Erdogan.
Als Faruk 14 Jahre alt war, brachte ihn sein Vater nach Berlin. Wie viele andere wurde er gar nicht gefragt, ob er nach Deutschland kommen wollte. Mit fünf Klassen Grundschule und einem Jahr Koranschule hatte er keine ausreichenden Voraussetzungen, um in Deutschland voranzukommen. Die Einzimmerwohnung des Vaters wurde für Faruk zum Gefängnis. Nur die Besuche in der Moschee erlebte er als Ausbrüche in die Freiheit.
Sein Wunsch, eine Lehre als Elektriker zu machen, stieß auf den Widerstand des Vaters. Sie würde zu lange dauern. Faruk sollte sofort arbeiten und Geld für seine Familie verdienen, die er mit 21 Jahren gründete. Um seine sechsköpfige Familie zu ernähren, begann er, in einer Kunststofffabrik zu arbeiten. Es gab dort keine Atemmasken zum Schutz gegen die Plastikdämpfe. Immer mehr schmerzten ihm bei der Arbeit die Lungen.
Heute schluckt der 43-jährige Faruk 21 Tabletten am Tag, gegen Krämpfe, Asthma und die fortschreitenden Lähmungen. In seinem Blut wurden 16 unterschiedliche Giftstoffe entdeckt. Faruk kann nicht mehr laufen und lebt als Schwerbehinderter von Hartz IV. Isabella Kroth betont in diesem Kontext: „Verschiedene Studien deuten auf ein erhöhtes Krankheitsrisiko unter Migranten hin – nicht nur wegen besonders belastender Arbeiten im Schichtdienst oder im Akkord. Das Robert-Koch-Institut wies auf das erhöhte Risiko bei Erkrankungen durch psychosoziale Belastung hin. Die Gründe für das erhöhte Krankheitsrisiko sind weitgehend unerforscht – mit ausschlaggebend könnte der Dauerspagat sein, den Migranten leisten müssen: zwischen der Kultur der Heimat und dem Versuch, sich hier anzupassen. Und auch die Orientierungslosigkeit in der Fremde, Angst vor Arbeitslosigkeit und Armut fallen ins Gewicht.“
Die Autorin zeigt auch in den übrigen Portraits, unter welchem Druck die in Deutschland lebenden türkischen Männer stehen: Sie müssen immer stark sein, moralische Autoritäten sein und die Familie ernähren. Oft können sie diese Erwartungen nicht erfüllen. Die Folgen davon sind Verzweiflung, Unsicherheit, Angst, Selbstzweifel, das Gefühl, versagt zu haben, ferner seelische und körperliche Krankheiten. Hinzu kommt noch das Gefühl, ein Fremder oder ein unerwünschter Gast zu sein.
Einige Männer aus der Selbsthilfegruppe von Erdogan haben früher ihre Frauen geschlagen. Heute tun sie es dank seiner therapeutischen Hilfe nicht mehr. Würde es nicht nur eine Gruppe dieser Art, sondern tausende geben, hätten türkische Männer mit Gewalt wahrscheinlich kaum Probleme. Für eine flächendeckende Einrichtung solcher Selbsthilfegruppen gibt es aber – wie oben erwähnt – keine Mittel.
Mit besonderen Problemen haben türkische Jugendliche, speziell türkische Jungen zu kämpfen. Sie bekommen immer wieder zu hören: „Nächstes Jahr kehren wir zurück in die Türkei.“ Das hat weitreichende Konsequenzen für ihre Identitätsbildung, ihre Deutschkenntnisse und ihre schulische Ausbildung. Noten spielen für viele von ihnen keine entscheidende Rolle. Schließlich sollen sie in jedem nächsten Jahr in eine Schule in der Türkei gehen.
Die Notwendigkeit, das Geld für den Familienunterhalt zu verdienen, beendet frühzeitig die Ausbildung. Gute Ausbildung ist aber in Deutschland eine wichtige Voraussetzung, um genügend Geld zu verdienen – ein Teufelskreis, in den viele türkische Jungen geraten.
Die frühe Verheiratung wird für die jungen Männer zum Bildungshindernis. Sie sollen früh die Rolle des Ernährers übernehmen. Ehe und Ehre hängen für viele der Männer sehr eng zusammen. Sie heiraten gegen ihren eigenen Willen, um die Ehre der Frauen und der Familie zu retten. Dafür nehmen sie in Kauf, schlecht ausgebildet und unglücklich zu sein.
Türkische Männer sind ähnlich wie türkische Frauen Produkte und Opfer der gesellschaftlichen Verhältnisse und der Tradition. Gleichwohl ist das Leiden der Männer anders als das der Frauen. Männer haben – so die Autorin – mehr Möglichkeiten und Freiheiten als Frauen: „Als Männer können sie einen Ausgleich außerhalb der Familie suchen, sie können flirten, feiern und Kaffeehäuser besuchen, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen.“ Ob das allerdings angesichts der im Buch dargestellten Leidensgeschichten ein Trost für die Männer ist, bleibt eine offene Frage.
Isabella Kroth hat ein einzigartiges Buch geschrieben. Sie hat als eine der ganz wenigen die soziale Determiniertheit und das Leiden der in Deutschland lebenden türkischen Männer geschildert. Es bleibt zu hoffen, dass auch Männer und Jungen – nicht nur die türkischen – in den Genuss der Gleichstellungsmaßnahmen kommen werden. Der Bedarf danach ist auf jeden Fall sehr groß.
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