INCELs – 1. Gefährliche Rechtsradikale oder hoffnungslose Männer?

von Gastbeiträge

Gastbeitrag von Prof. Dr. Michael Klein, Klinischer Psychologe und Psychologischer Psychotherapeut in eigener Praxis. Experte für Männerpsychologie und -psychotherapie, u.a. mit den Themen Einsamkeit, Depression, Sucht und Selbstwert bei Männern befasst.

Immer wieder wird in den letzten Jahren in den Medien über eine gefährliche Gruppe von Menschen berichtet, die aus Hass insbesondere Frauen töten. Dies geschieht mit Mass-Shootings, Autoattacken oder anderen Tötungsmethoden, meist mit dem Ziel, auch selbst dabei zu Tode zu kommen. Dann würde das Vorgehen einem Amoklauf gleichkommen. Es handelt sich nicht um islamistische Attentäter, sondern um junge, frustrierte Männer, die über viele Jahre keinen Sex mit Frauen hatten, sich aufs Äußerste abgelehnt und verletzt fühlen. Sie töten nicht aus religiösem, sondern aus persönlichem, privatem Hass und Fanatismus. Dieser ist über viele Jahre in ihnen herangereift, ohne dass sie eine Chance auf Heilung oder wenigstens Linderung gesehen hätten. Dies ist die Erzählung in den Massenmedien, doch die Realität dieser Männer ist eine ganz andere. Darum geht es im Folgenden.

Die Realität ist trostlos und zum Verzweifeln

Die meisten dieser Männer haben nie fachgerechte Hilfe erhalten, weil im Hilfesystem niemand die Hintergründe und das Gefühlsleben dieser Männer versteht oder verstehen will. Die Sichtweise, die von den Leitmedien in immer wieder neuen Dokumentationen verbreitet wird, ist einseitig, übertrieben zugespitzt und von Voyeurismus gekennzeichnet[i]. Meist entlarven diese Filme nicht die betroffenen Männer, sondern ihre Macher: empathielos, gefühllos, sensationslüstern. Als Zielobjekte geht dabei um Männer, die unfreiwillig zölibatär leben, von einer kanadischen Sozialarbeiterin schon vor über 25 Jahren erstmalig mit dem Begriff INCELs („involuntary celibates“) benannt. Die EU-Kommission hat sogar schon eine Sonderkommission im Bereich Terrorabwehr eingerichtet, um gefährliche INCELs frühzeitig zu identifizieren und abzuwehren. Auf die Idee, diesen Männern, die sich selbst mehr hassen als irgendjemand sonst, psychologisch oder sozialpädagogisch zu helfen, ist man bislang nicht gekommen. Wie kommt es zu dieser völligen Verweigerung von Verständnis und Hilfe für eine Gruppe von Menschen, die in Deutschland nach vorsichtigen Schätzungen bis zu 1.5 Mill. Männer umfassen könnte?

Wie gefährlich sind INCELs wirklich? Hilfe statt Gefahrenabwehr!

Aber vorab: Was hat es mit dem Gefahrenpotential der INCELs auf sich? Eine klare Minderheit aller INCELs (ca. 10%) betätigt sich in misogyner Online-Frauenfeindlichkeit (Jaki et al., 2019). Eine noch kleinere Zahl verhält sich gegenüber der Gesellschaft insgesamt oder Frauen speziell aggressiv (Hoffman, Ware & Shapiro, 2020), vermutlich weniger als 1%.

INCELs sind im Grunde schwache, ohnmächtige und frustrierte Männer, vor denen Angst mächtig geschürt wird. Am häufigsten hassen sie sich am Ende selbst, auch die Frauen, von denen sie zurückgewiesen werden oder Frauen insgesamt.

Die Angstmache gegen INCELs kommt in erster Linie von radikalfeministischer Seite. Dort ist Mitgefühl mit Personen, die als Gegner eingestuft werden, ein Fremdwort. Offenbar ist es besonders leicht, auf schwache, wehrlos Männer medial einzuprügeln. Die oft als INCEL-Expertin genannte Veronika Kracher, Autorin eines äußerst unsachlichen, hasserfüllten Buches[ii], ist ein Beispiel für diese vollkommen übertriebene Panikmache. Sie schreibt im September 2023 auf X:

Männerdiskriminierung richtig und wichtig. Ich schlage vor, wir verurteilen pauschal und zurecht alle Männer als potentielle Täter, bis sie beweisen können dass sie es *nicht* sind, anstatt umgekehrt. Erspart viel Mühe und vor allem Schmerz und Gewalt“.

Soweit ein kurzer Auszug zur „Expertise“ dieser in vielen Kreisen hochgelobten Autorin. Sie ist als Expertin für Männer im Allgemeinen und für INCELs im Speziellen völlig untragbar und inkompetent.

Die Erzeugung von Panik gegenüber INCELs ist überwiegend unberechtigt und empirisch auch nicht haltbar. Das Risikopotential, das von politischen oder religiösen Extremisten ausgeht, ist um ein Vielfaches höher. Man sollte ihnen besser frühzeitig durch Psychoedukation, Beratung und Psychotherapie helfen. Der Weg der Leitmedien (ARD, ZDF) ist jedoch der der Stigmatisierung und Ausgrenzung, wo Hilfe und Empathie nötig wären, bevor es zu spät ist. Ich bin sicher, wenn es sich um Frauen, die keinen Partner finden, handeln würde, gäbe es das nötige Verständnis schon längst. Und in der Tat: Für erfolgreiche Frauen um die 50, die nach Trennung oder Scheidung keinen neuen Partner finden (häufigeres Phänomen), interessiert sich die Presse lebhaft und zeigt auch intensives Mitgefühl.

INCELs – ein Problem von Männern auf Basis mangelnden sexuellen Erfolges

Wer sind INCELs wirklich? Es geht um Männer, die trotz intensiven Bemühens keine Sexualpartnerinnen – und damit auch keine Lebenspartnerin – finden. Obwohl keine genauen Zahlen über die Häufigkeit dieser Männer vorliegen, ist klar, dass es nicht um wenige Betroffene handelt. Im Jahre 2018 berichtete der US-amerikanische „General Social Survey“, dass 28% der 18- bis 30-jährigen Männer im letzten Jahr keinen Sex hatten (Vergleichszahl Frauen: 18%!). In der Gruppe der 18- bis 24-Jährigen stieg der Anteil der Männer ohne Sexualität in den letzten 12 Monaten vom Jahr 2000 bis zum Jahr 2018 von 18.9% auf 30.9%[iii]. Vergleichbare Zahlen für Deutschland liegen nicht vor.

In der Entwicklungsgeschichte der Menschen sind solche Unterschiede nicht ungewöhnlich. Für frühere Gesellschaften – etwa im Neolithikum – wird aufgrund genetischer Analysen davon ausgegangen, dass 20% der Männer für 80% aller Zeugungen verantwortlich waren. Die Männer, die sich so erfolgreich fortgepflanzt haben, werden heute Alpha-Männer genannt, weil sie den sexuellen Zugriff auf die meisten Frauen hatten. Mit anderen Worten: Bis zu 80% der Steinzeitmänner hatten keinen oder kaum Sex mit Frauen. Es gab also schon neolithische INCELs, die jedoch eng in Großfamilien (Sippen) eingebunden waren, und daher nicht so stark unter Einsamkeitsproblemen gelitten haben dürften, wie dies heute der Fall ist.

Die romantische Liebe macht hässliche Männer zu INCELs

Aufgrund der seit der Sesshaftwerdung der Menschen stattgefundenen „Erfindung“ der Monogamie und der Patrilinealität – der Organisation der Familien und damit des Besitzes und der Erbschaften entlang der väterlichen Linie – haben sich später die soziosexuellen Verhältnisse für Männer und Frauen deutlich verändert. Männer haben im Rahmen dieses Modells die Garantie der Versorgung von Frauen und ihren Kindern übernommen und wurden dafür mit dem Versprechen der sexuellen Treue belohnt. Aber seit dem Zeitalter der romantischen Liebe – seit etwa 200 Jahren -, in deren Rahmen sich zwei Liebespartner finden und wählen und dies nicht mehr in der Verantwortung der Eltern als arrangierte Ehen liegt, haben Männer mit physischen und psychischen Defiziten einen schweren Stand. Es sind besonders Männer, die in den Augen der meisten Frauen hässlich, unattraktiv, zu klein und körperlich zu schwach sind, die Gefahr laufen, keinen Erfolg in der sexuellen Selektion zu erringen. Ungünstige psychische und soziale Merkmale kommen in einem zweiten Schritt meist noch selektiv dazu. Bis zu 12% aller Männer heutzutage sind im Alter von 30 Jahren immer noch sexuell unerfahren, haben meist trotz eifrigem Werbeverhalten keinen Erfolg bei Frauen. Dadurch werden sie unfreiwillig zu „männlichen Jungfrauen“, den INCELs (involuntarty celibates). Wie Männer diese Erfahrung von Zurückweisung und Erfolgslosigkeit verkraften, ist die zentrale Frage für ihre weitere Entwicklung. Wissenschaft und Medien interessiert diese Frage kaum.

Welche Jugendliche werden zu INCELs? – Determination, Risiko und Auswege

Verschiedene Gruppen von Männern sind gefährdet, zu INCELs zu werden. Dazu zählen vor allem eine geringe Körpergröße (kleiner als etwa 175 cm) sowie eine mangelnde physische Attraktivität hinsichtlich klassisch männlicher Merkmale wie markantem Kinn und Backenknochen, symmetrischem Gesicht sowie breiten Schultern. Das Merkmal der physischen Attraktivität ist wie viele andere körperliche und psychische Merkmale bei Menschen normalverteilt. Dies bedeutet, dass die meisten Männer mittlere Werte erreichen und wenige an den Rändern liegen. Besonders attraktiv sind nur wenige, dasselbe gilt für das Gegenteil. Die 15% bis 20% Hochattraktiven sind diejenigen, die von Frauen – gerade in Zeiten des Online-Datings – geradezu automatisch ausgewählt werden. Diese – nun wieder als Alpha-Männer in Erscheinung tretenden Männer – sind jene, die oft von anderen Männern wegen ihrer Erfolge bei Frauen beneidet und bewundert werden. Bei ihnen ist oft auffällig, dass sie Sexualkontakte zu Frauen geradezu konsumieren, schnell ihre Beziehungen wechseln und so ihren großen Erfolg durchgängig genießen, einfach weil sie aus einem Überangebot von Frauen wählen können. Alpha-Männer sind diejenigen, von denen andere Männer Frauen zu überzeugen versuchen, dass diese nur oberflächlich und gefühllos sind. In den Augen der erfolglosen Männer sind sie echte „Arschlöcher“, die Frauen nur ausnutzen und wegwerfen. Die meisten Frauen interessiert dies wenig, da Alpha-Männer genau den 15-20% der Männer entsprechen, nach denen sie aufgrund ihrer psychoevolutionären Prägung unbewusst streben. Für sie ist das Zusammensein mit einem Alpha-Mann die Erfüllung ihrer unbewussten Träume, auch wenn sie hernach oft enttäuscht werden. Postmoderne Frauen wählen sich oft einen Alpha-Mann als Trophäe, ohne überhaupt an Langzeitverläufe zu denken. Dieses Verhalten hält aber meist nur bis in die früher 30-er Lebensjahre an, weil es danach ernst wird mit Kinderwunsch und Familienplanung.

Die anderen Männer, die Betas, die nur durchschnittlich oder wenig attraktiv sind, kommen erst in Betracht, wenn es bei Frauen um Absicherung, Zweitehen (oft mit Versorgung schon vorhandener Kinder) oder Verbesserung des sozialen Status (ökonomische Hypergamie) geht. Auch wenn sich diese Partnerwahlmuster in Einzelfällen heutzutage verändert haben, was in der Presse oft übertrieben wird, gilt für die große Mehrheit der Frauen und Männer das beschriebene Muster. Die Partnersuche auf der Basis von Online-Dating-Portalen (wie Tinder, Bumble usw.) verstärkt die Dominanz visueller Auswahlkriterien noch.

Ein Fallbeispiel für einen INCEL ohne Erfolg bei Frauen

Zur Verdeutlichung des Beschriebenen hier ein Fallbeispiel aus meiner psychotherapeutischen Praxis:

Fallbeispiel: Oliver[iv] (32 Jahre) hat seit der Pubertät immer wieder Zurückweisungen von Frauen erlebt. Er entspricht mit seinen 1,72 m und 115 kg ganz und gar nicht dem vorherrschenden und auch biologisch vorgeprägten Schönheitsideal. Im Zuge der letzten 15 Jahre hat er kontinuierlich ca. 25 kg zugenommen. Er hat als Jugendlicher erlebt, dass seine sportlich-athletischen Peers die Mädchen reihenweise erobert und „rumgekriegt“ haben, während seine Bemühungen auf Zurückweisung oder sogar Lächerlichmachung durch die Mädchen gestoßen sind. Seine Kumpel begegneten ihm meist mit Mitleid oder Ignoranz. Er hat mit 16 Jahren begonnen, als „Trost“ und zur Abreaktion (Masturbation) online mehr und mehr Pornographie zu konsumieren. Inzwischen gibt ihm dies aber immer weniger. Er fühlt sich nach dem oft zwanghaften Masturbieren noch negativer und unfähiger.

Die Mechanismen der sexuellen Selektion, nach denen gutes Aussehen hinsichtlich Größe, markantem Gesicht und Körperkraft den erfolgreichen Eintritt in den Partnermarkt (dating und mating) determinieren, sind ihm lange Zeit nicht klar gewesen. Er versuchte immer wieder, Erfolg bei Frauen zu haben, kam aber nie zum Ziel. Die Zurückweisungen durch Frauen machten ihn traurig und deprimiert. Er sah darin zunehmend den Beweis für seine körperlichen Defizite und Auffälligkeiten. Aus Frust begann er, wahllos Essen in sich hinzustopfen und massiv an Gewicht zuzunehmen. Sein bester Freund, der groß und gutaussehend ist, hatte schon viele Beziehungen, Affären und One-Night-Stands. Nach und nach werden Oliver die Gründe für seine Misserfolge klar. Es schmerzt ihn sehr, dass er ausschließlich aufgrund seines hässlichen Aussehens keine Sex- oder Liebesbeziehung findet. Er hasst sich dafür zunehmend, mag aber seine Bemühungen nicht aufgeben. Er hat sich lange Zeit bemüht, eine Frau zu finden, die ihn akzeptiert. Er suchte bewusst eine Liebesbeziehung und nicht eine rein sexuelle Begegnung.

Aber nach seltenen scheinbaren Anfangserfolgen hat er am Ende, wenn es intimer und körperlicher werden sollte, stets Zurückweisungen erfahren. Innerlich wurde er zunächst traurig, dann verzweifelt, schließlich ärgerlich und wütend. Seine anfängliche Begeisterung und Leidenschaft für Frauen sind zunehmend in Resignation umgeschlagen. Er bemüht sich sehr, Frauen nicht zu hassen und sieht sie eher als Opfer ihrer unbewussten Triebe denn als aktive Täterinnen. Seit einiger Zeit tauscht er sich mit anderen Männern, denen es genauso ergeht, in sogenannten INCEL-Foren aus. Das zieht ihn oft noch weiter runter. Trotzdem fühlt er sich dort wenigstens verstanden, auch wenn die Peers dort sich immer wieder beschimpfen, wie hässlich andere oder sie selbst sind. Trotzdem lässt ihn das Ganze am Ende ratlos zurück.

Im zweiten Teil geht Prof. Klein auf die Frage ein, warum Männer zu INCELs werden und wie sie in den Medien dargestellt werden.

[i] Beispiele: (1)  https://story.ndr.de/incels/index.html  (2)  https://www.zdf.de/dokumentation/die-spur/incels-amok-frauenhass-toxisch-100.html  (3)  https://www.ardmediathek.de/video/y-kollektiv/suizid-gewalt-frauenhass-wie-gefaehrlich-sind-incels-in-deutschland/funk/Y3JpZDovL2Z1bmsubmV0LzEwNTkvdmlkZW8vMTcwMjY4Mg
[ii] Kracher, Veronika: Incels – Geschichte, Sprache und Ideologie eines Online-Kults, ventil verlag 2020 
[iii] Ueda P et al.: Trends in frequency of sexual activity and number of sexual partners among adults aged 18 to 44 years in the US, 2000-2018. JAMA Network Open 2020; 3(6): e203833
[iv] Name und Details zur Nicht-Erkennbarkeit verändert

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Lesermeinungen

  1. By Niklas

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  2. By michi

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  3. By Mathematiker

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