Jungen sind auch Menschen

von Manndat

Der nachfolgende Beitrag wurde aus www.jungenpaedagogik.de mit freundlicher Genehmigung von Herrn Steffen Abraham abgedruckt.

 Folgenden Artikel veröffentlichten Jutta Hartmann und Jens Zergiebel, Mitarbeiter/innen des Schülerklubs an der »Grundschule im Hasengrund« in Berlin-Pankow. Der Schülerklub ist ein Projekt des FIPP e.V. Die Autor/innen beziehen sich auf das derzeit fachöffentlich viel diskutierte und beobachtete Phänomen der »Feminisierung« des Schulbetriebs und ohnehin der Kinderbetreuung und vermuten, dass darüber hinaus geschlechtsspezifische Angebote in der Kinderbetreuung bisher einseitig auf Mädchen ausgerichtet waren – mit respektablen Erfolgen. Im gleichen Atemzug hatte diese Angebotsstruktur allerdings eine entsprechende Benachteiligung der Jungen zur Folge. Der Artikel zeigt in Form eines Dialoges, dass geschlechtsspezifische Angebote auch weitergehend verstanden werden können, was allerdings einen umfassenden Blickwinkel auf beide Geschlechter voraussetzt – beispielsweise die Fähigkeit, Jungen zu deren Vorteil »anders« und reflektiert zu verstehen, und das oftmals als störend und ungestüm stigmatisierte Verhalten von Jungen entgegen gesellschaftlicher Klischees umdeuten zu können.

Jungen sind auch Menschen
Jutta: »Seit zwölf Jahren arbeite ich beim FiPP e.V., immer mit Kindern zwischen zehn und fünfzehn Jahren. Ich erinnere mich: Vor Jahren hatten wir eine Weiterbildung zum Thema ›Warum kommen keine Mädchen in den Klub?‹. Tatsächlich hatten wir Anfang der 1990er Jahre in unseren Einrichtungen einen Jungenüberschuss festgestellt. Die Jungen schienen mit ihren raumergreifenden, lauten und rüpelhaften Aktionen die Mädchen zu verdrängen. Die Gegenmaßnahmen waren schon in aller Munde und natürlich versuchten auch meine damaligen Kolleginnen und ich von den gutmeinenden Ideen Besitz zu ergreifen: Mädchenprojekte, Mädchentage, Mädchengruppen, Mädchenräume. ›Mädchen schlägt man nicht‹ wurde zum Schlagwort, ›klärt das im Gespräch.‹ Und was geschah? Die Mädchen gewannen: Sie waren im Reden schlagfertiger.

Auch die Schuhindustrie hat sich sehr parteiergreifend für Mädchen entwickelt. Ich habe Schienbeine von Jungen nach Auseinandersetzungen mit Mädchen gesehen. Die Techniken brachte man ihnen in Mädchen-Selbstverteidigungskursen bei. Nun, die Mädchen scheinen es jedenfalls mit gesellschaftlicher, also auch unserer Hilfe geschafft zu haben. Sie sind selbstbewusst, laut und schlagfertig. Laut sind die Jungen auch immer noch. Aber haben Sie, werter Leser, schon mal einen Jungen aus einem Raum kommen sehen, in dem gerade drei Mädchen gackern, kreischen, toben und lästern?! Ganz kurz gesagt: Ich habe immer mehr den Eindruck, dass Jungen überfordert sind. Das sehen wir an den Besucherstatistiken der letzten Jahre. Wenn es hoch kommt, sind beide ›Parteien‹ zu gleichen Anteilen da, meist mehr Mädchen. Ein Erfolg? Na ja, irgendwie schon, mir ist aber auch mulmig bei dieser Erfolgsaussage. Seit einigen Monaten habe ich einen männlichen Kollegen an meiner Seite. Jens, wie siehst du das Ganze?«
Jens: »Die sich verändernden Tendenzen konnte ich in den letzten Jahren in anderen Einrichtungen der Kinder- und Jugendarbeit ebenfalls beobachten. Ich sehe hier im Schülerklub aber auch viel gemeinsames Tun von Jungen und Mädchen. Das muss daran liegen, dass wir den Jungen vermitteln, dass sie das gleiche Recht auf Raum, Zuwendung und Hilfe haben wie die Mädchen. Die spezifischen Angebote an Mädchen liefen immer auf Stärkung und Förderung hinaus. Die Ansätze von Jungenarbeit orientierten sich eher an Defiziten wie Aggression und Dominanz. Eigentlich liefen solche Angebote häufig zur Unterstützung der Mädchen, denn die Jungen sollten ihre Schwächen und Fehler abbauen. Das konnte irgendwie nicht gut gehen. Gleichberechtigung hat schließlich etwas mit gleichen Rechten zu tun. Uns geht es hier ja nicht um Gleichmacherei, sondern um das Recht auf Entwicklung jeder Persönlichkeit. Und da ist nun mal jedes unserer Kinder anders, Jungen noch mal anders als Mädchen. Da es in unserem Beruf leider wenig Männer gibt, fände ich es fatal, wenn man sich darauf verließe, dass wir paar Männer nur dafür zuständig sind, den Jungen zu ihren Rechten zu verhelfen. Das ist schon auch Aufgabe der Frauen. Wenn ich manchmal oben durch den Schulflur gehe, kann ich an kleinen Beispielen beobachten, dass die Durchsetzung des Prinzips der Gleichberechtigung ein langer Weg sein wird. Als Beispiel: Zwei Kleine aus dem Hort flitzen den Flur entlang. Der Junge bremst ab, von Weitem ist eine Hortnerin zu sehen, er kennt die strengen Blicke und Vorträge über die Hausordnung. Das Mädchen rennt selbstbewusst weiter und die Hortnerin lächelt freundlich mit den Worten ›Na, fall bloß nicht, kleine Flitzemaus.‹

In solchen Augenblicken denke ich an das gemeinsame europäische Vorhaben zur Durchsetzung des Gender-Mainstreaming. Aber das muss erst in den erwachsenen Köpfen zum Denkansatz werden, sonst haben die Kinder nichts davon. Man kann noch so viel über das schlechte Abschneiden der Jungen bei der PISA-Studie klagen, wenn man im Lebensalltag nicht weiterdenkt und auch handelt. Schade, dass nur eine Lehrerin einen Elternabend zum Thema ›Warum sind Jungen so anders‹ durchgeführt hat. Die Eltern waren anfangs wohl irritiert, aber auch erleichtert, dass das mal Thema war. Und was sage ich: nur eine Lehrerin. Es war immerhin eine Pädagogin aus dem rein weiblichen Schulpersonal. Das es zu einem solchen Elternabend überhaupt kam, war ja auch ein bisschen unser Erfolg, daran werden wir weiter arbeiten. Unseren Kindern jedenfalls bekommt unser beider Achtung vor beiderlei Geschlecht auffallend gut. Immer mehr Jungen bitten um Hilfe, auch bei schulischen Belangen, erklären Ehrgeiz nicht mehr zur Mädcheneigenschaft und reden auch schon darüber, wie es ihnen geht, besonders eben, wenn sie sich körperlich oder seelisch nicht so gut fühlen. Ich denke da gerade an dieses Gespräch nach einem Versteckspiel, in dem es darum ging, wo und wie im Körper man Angst spürt. Jutta, erzähl doch mal von Tom, ich habe ihn nicht kennen gelernt. Aber als du mir von ihm erzählt hast und mit welcher Sichtweise, war ich mir sicher, dass wir das Gleiche wollen.«
Jutta: »Ja, der 12jährige Tom. Auf den ersten Blick und in der klassischen Wahrnehmung war er ein ganz ›typischer‹ Junge. Er störte durch seine Lautstärke bis zur Schmerzgrenze, durch ständiges unruhiges Agieren, auffälliges Schwanken zwischen lachen und böse werden, durch sein Rempeln und Schlagen. Tom hatte keine Freunde. Auffallend war auch, dass er selten witterungsentsprechend gekleidet war. Klassisch war die Überlegung der Lehrer: Wie schütze ich die Klasse vor Tom? Er wurde zu Wandertagen und Schüleraustauschfahrten vorbeugend nicht mitgenommen. Wäre mein Ansatz der klassische gewesen, hätte ich über eine Sanktionierung des Jungen nachdenken müssen, um ihn für den Schülerklub tragbar zu machen. Ich sah Tom jedoch aus einem anderen Blickwinkel. Es war fast unglaublich, welche Ressourcen er hatte. Er war ein wahres Energiebündel, voller Ideen auf der Suche nach Ventilen. Er hatte ein tolles Rhythmusgefühl und eine prächtige Singstimme. Er suchte ständig nach Kontakt und Kommunikation. Tom liebte es, sich nie zu langweilen und sorgte auch dafür, dass ihm und anderen in seiner Nähe das nicht passierte. Er kannte seinen Körper so gut, dass er nur die Kleidung trug, die er brauchte, war nie krank. Er lachte sehr gern, war intelligent und reagierte äußerst sensibel auf ihm angetane seelische und körperliche Grenzüberschreitungen. Tom spürte, dass er von mir so angenommen wurde, wie er war und erfuhr, was aus seinen Ressourcen zu machen war. Er animierte selbst die zurückhaltendsten Kinder zum Mitspielen, organisierte Tischtennisturniere und lernte, von mir oder anderen Kindern Hilfe anzunehmen. Der Junge leitete Hortkinder beim Fußballspiel an und schaffte es, aus einer zigmal zurückgespulten Videokassette eine Party zu machen. Er reagierte mehr und mehr auf sanfte Körperkontakte, signalisierte rechtzeitiger seine Verletzbarkeit und begann, seinen Verstand im Umgang mit den anderen einzusetzen. Tom, der ›typische‹ Junge hatte alle Voraussetzungen, ein Besucherkind im Klub zu sein. Jeder Tag mit ihm war anstrengend, aber lehrreich, seine Entwicklung bestätigte mir die Richtigkeit der Durchsetzung des Gender-Mainstreaming.«
Jens: »Während der Mitarbeit in der Arbeitgruppe ›Entwicklung der Ich- und Sozialkompetenzen‹ zur Erarbeitung des neuen Schulprogramms werden wir darauf achten, dass der Gedanke der Gleichberechtigung der Jungen und Mädchen darin verankert wird. Ich denke, dass wir da noch Einiges erreichen können.«

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