Die Abercrombie-Story
Die Abercrombie-Story
von Alexander Börger
Dass auch Männer Opfer von sexuellem Missbrauch werden, wird in den Medien selten thematisiert. Arne Hoffmann hat sich des Themas in 2023 in seinem Buch „Sexuelle Gewalt gegen Männer“ angenommen.
Umso erfreulicher ist es, dass mittlerweile auch das ZDF die deutsche Fassung der BBC-Dokumentation zum Abercrombie-Skandal in der Mediathek anbietet.
https://www.zdf.de/video/dokus/zdf-info-100/die-abercrombie-story-sex-luegen-missbrauch-100.
Die Dokumentation hat mich tief berührt. Vorweg: Ich habe mich in meinem Leben nie sonderlich für Mode interessiert, Marken waren – und sind – mir weitgehend egal. Allerdings gab es in meinem Leben eine große Ausnahme davon, und das war die Marke Hollister. Bereits 2000 als Untermarke zu Abercrombie & Fitch gegründet, kam die Marke ab 2008 nach Deutschland. Mein Geschmack war getroffen, und ich wurde auch drauf angesprochen – Hollister war in, auch und gerade bei der jungen Generation. Abercrombie & Fitch hatte mal wieder einen Riesenerfolg erzielt. Es war bei Weitem nicht der erste – eine Legende des schwulen Pornos, Pierre Viverais aus Kanada, ging sogar so weit, dass er seinen Darstellernamen nach der Firma wählte und sich Pierre Fitch nannte.
Hätte ich gewusst, welches System ich damit indirekt unterstütze, hätte ich von den Kleidungsstücken von Hollister die Finger gelassen.
Wie wir heute wissen, basierte dieser Erfolg auf einem ausbeuterischen System. Und damit sind nicht nur die schlechten Arbeitsbedingungen (Dunkelheit, Kälte, Behinderung von Betriebsräten usw.) in Hollister-Filialen gemeint, die in Deutschland bereits Anfang der 2010er-Jahre zu arbeitsgerichtlichen Auseinandersetzungen führten.
In der BBC-Dokumentation wird beschrieben, wie der frühere Abercrombie & Fitch-CEO Michael Jeffries zusammen mit seinem Geschäftspartner Matthew Smith und einem Gehilfen namens James Jacobson eine regelrechte Industrie betrieb, in der junge Männer, die sich eine Karriere als Models für Hollister versprachen, eingeschüchtert und zu sexuellen Handlungen gedrängt wurden, die auf Sexpartys mit teilweise über 100 Beteiligten stattfanden. Dabei kam es offensichtlich auch zu Vergewaltigungen (Sex mit Betäubten), sogar mit HIV-Infektionen in der Folge.
Nun ist es seit Langem bekannt und offensichtlich auch gesellschaftlich akzeptiert, dass in der gesamten Modebranche viele männliche Homosexuelle arbeiten. Allerdings sind die männlichen Nachwuchsmodels nach verschiedenen Berichten mehrheitlich nicht homosexuell. In der Dokumentation kommen männliche Models zu Wort, die bereits vor ihren Kontakten zu Abercrombie & Fitch Sex mit anderen Männern hatten, als Pornodarsteller, Gay Escort oder in homosexueller Partnerschaft lebend. Allerdings haben sich nur drei von 20 ermittelten Fällen getraut, überhaupt im Bild zu erscheinen oder eine Aussage für die BBC zu machen.
Man sollte dabei das extreme Abhängigkeitsverhältnis nicht vergessen: junge Männer, die sich eine Model-Karriere versprachen, ohne feste Einkünfte waren und für die angesichts ihrer Vorgeschichte als Pornodarsteller bzw. Gay Escort die einfache Rückkehr in eine klassische bürgerliche Existenz nicht mehr so ohne Weiteres möglich war. Auf der anderen Seite der Multimilliardär Michael Jeffries mit seinem riesigen Konzern im Hintergrund.
Das Ausmaß des organisierten sexuellen Missbrauchs war industriell. Für die Sexpartys, die auf verschiedenen Kontinenten (USA, Europa, Afrika) stattfanden, gab es eigene Frisöre, die die jungen Männern kahl schuren, eigene Fahrer, die die Models in spe zu den Veranstaltungsorten fuhren, und einen eigenen Sicherheitsdienst, der durch seine schiere Anwesenheit für weitere Einschüchterung der jungen Männern sorgte, sodass diese das Gefühl bekamen, sie könnten den Ort der Party nicht so ohne Weiteres verlassen – wie auch, komplett nackt und ohne Geld bzw. Papiere in Reichweite.
Die beschriebenen Verhältnisse sind noch heute prototypisch. Ein Bekannter aus Lateinamerika, der bereits als Minderjähriger mit dem Modeln begann, hat mir bestätigt, dass es in der Modelszenze auch heute noch ständig zu übergriffigen Handlungen kommt. Zwar hat er an keinen Sexpartys teilgenommen (schon gar nicht für eine US-Marke wie Abercrombie & Fitch), aber auf meine Frage, wie oft er sich schlecht behandelt/misshandelt bzw. missbraucht gefühlt habe während seiner Modelkarriere, antwortete er „die ganze Zeit“.
Er sei ständig angefasst worden und er habe schnell festgestellt, dass er mehr Geld bekomme, wenn er sich anfassen lasse. Schließlich hat er die Modelbranche mit 18 Jahren komplett verlassen, nachdem er den Avancen seines Mentors offensichtlich nicht ausreichend nachkam und diesen einen anderen jungen Mann für die Aufträge bevorzugte, sodass er seine Einkünfte und damit auch seine Wohnung und die Grundlagen seines Lebensunterhalts verlor.
In meinen Augen zeigt sich ein starker Gender-Empathy-Gap daran, dass im Gefolge der MeToo-Bewegung die Übergriffigkeiten etwa eines Harvey Weinstein zu einem weltweiten Medieninteresse führten, während die BBC-Dokumentation mit einjähriger Verzögerung zwar staatsanwaltliche Ermittlungen wegen Sexhandels und sexuellen Missbrauchs auslöste, die Tatsache der Verhaftung des ehemaligen CEOs einer der wichtigsten Modemarken weltweit keinen größeren Skandal auslöste und schon gar keine Boykott-Aufrufe gegen Hollister & Co. Als ob sexuelle Belästigung und sexuelle Übergriffe für männliche Models eben dazugehörten. Über die Aktivitäten des Österreichers René Benko oder des Deutsch-Amerikaners Karl-Erivan Haub wurde hingegen sehr ausführlich in den deutschen Medien berichtet, alleine an der Staatsbürgerschaft kann es also nicht liegen.
Besonders schockierend am Fall Abercrombie & Fitch ist das organisierte Ausmaß des Missbrauchs. Im Film wird deutlich darlegt, dass eine vermutlich vierstellige Zahl (also mehr als 1.000 Menschen (!)) an der Organisation und Durchführung der beschriebenen Sexpartys beteiligt gewesen sein müssen.
Im Falle von Abercrombie & Fitch hat die BBC-Dokumentation von 2023 mittlerweile zur Verhaftung von Michael Jeffries und seiner zwei Hauptmittäter geführt. Die Firma Abercrombie & Fitch hat sich deutlich von den Praktiken ihres ehemaligen CEOs distanziert. Allerdings sind die bisherigen Ergebnisse völlig unzureichend. Weder sind bislang Entschädigungszahlungen an die Betroffenen geleistet worden, noch sind Verurteilungen erfolgt, noch hat eine vollumfängliche Aufklärung der Vorgänge stattgefunden.
Es ist davon auszugehen, dass etliche junge Männer, die Opfer des Systems Abercrombie & Fitch wurden, aus Scham oder Verdrängung oder aus Sorge, ihre aktuelle Stellung in der Modebranche zu gefährden, nicht an die Öffentlichkeit gehen bzw. sich an die Strafverfolgungsbehörden wenden. Viele werden vermutlich gar nicht einmal wissen, dass die strafrechtlichen Ermittlungen überhaupt eingeleitet wurden und sie sich an die zuständigen US-Behörden wenden könnten; vermutlich scheitert es in einigen Fällen schon an den nötigen Sprachkenntnissen.
Die beschriebenen Verhältnisse sind so in keiner Weise akzeptabel und bedürfen einer gesellschaftlichen, staatlichen und internationalen Aufarbeitung:
a) Die Firma Abercrombie & Fitch hat einen Entschädigungsfonds einzurichten, an den sich Opfer vertrauensvoll und unter Wahrung absoluter Anonymität wenden können. Dieser Entschädigungsfonds sollte sich in finanzieller Hinsicht an die in den USA üblichen Summen halten.
b) Offensichtlich haben die staatlichen Überwachungs- und Aufsichtssysteme hier vollkommen versagt. Da die Sexpartys auf verschiedenen Kontinenten stattfanden, liegt auch kein reines Versagen der US-Behörden vor, sondern ein globales Versagen. Das mag durchaus daran gelegen haben, dass in diesem Fall Männer die Opfer waren. Folgerichtig bedarf es Maßnahmen auf Ebene (mindestens) der USA und der EU, um junge Menschen in der Modelbranche ausreichend vor sexuellen Übergriffen zu schützen.
Zum einen sollte es freiwillige Selbstverpflichtungen der Modeunternehmen, der Foto-, Model- und Castingagenturen geben. Zum anderen sollte der gesetzgeberische Druck erhöht werden, dass sämtliche Unternehmen und Privatpersonen, die in dem Bereich aktiv sind, sich an derartigen Verpflichtungen beteiligen. Durch staatliche Maßnahmen müssen Hotlines und andere Beschwerdemechanismen installiert und dauerhaft finanziert werden. Vor allem aber müssen die Leiden und Ängste männlicher Opfer genauso ernst genommen werden wie in Fällen, in denen Frauen die Opfer sind.
c) Generell muss die Aufklärungsarbeit massiv verstärkt werden.
d) Schließlich muss ein gesellschaftliches Umdenken eingeleitet werden. Insbesondere bedeutet die Tatsache, dass ein junger Mann, der, sich einmal oder einige wenige Male in seinem Leben für bezahlte sexuelle Dienstleistungen hingegeben hat (egal ob Pornographie, Prostitution oder ähnliches), auch in jeder kommenden Situation bereit ist, das noch mal zu tun und seine Ablehnung nicht ernst zu nehmen ist. Bereits in der BBC-Dokumentation wird aber deutlich: genau dieser Appell („Du hast es doch schon mal getan, also stell Dich jetzt nicht so an.“) wird durch die Ausbeuter angestrebt.
Dahinter steht auch das immer wieder gerne verbreitete Vorurteil über Männer, dass sie immer und jederzeit Sex wollten und es ihnen im Zweifelsfall sogar egal sei, mit wem. Sexuelle Gewalt gegen Männer darf kein Tabuthema sein, nur weil es der hegemonialen Vorstellung von männlichem Täter- und weiblichen Opfergeschlecht widerspricht.
e) Allerdings muss man realistisch sein: Die in der BBC-Dokumentation beschriebenen Verhältnisse stellen nur die Spitze des Eisbergs dar. Mittlerweile liegen etliche weitere Berichte von Missbrauchsfällen an jungen Männern vor (u.a.
– https://www.facebook.com/watch/?v=577593716806066
– https://www.dw.com/de/alexander-wang-berichte-%C3%BCber-sexuelle-%C3%BCbergriffe/a-56673188
Insofern ist von einem systemischen bzw. systematischen Problem auszugehen. Insofern sollte es eine Art Kronzeugenregelung bzw. eine Art Wahrheits- und Versöhnungskommission geben, die männlichen oder weiblichen Tätern gegen Offenlegung ihrer Taten weitgehende Straffreiheit und Freiheit von Entschädigungszahlungen zusichert. Denn bei all dem: Wenn über die Geschehnisse nicht gesprochen wird, wird sich an den Verhältnissen nichts zu ändern.
f) Und schließlich muss der Selbstschutz der in der Modelszene Aktiven bzw. neu in die Branche Kommenden verstärkt werden. Eine Model-Gewerkschaft existiert mit Modelkompass (https://modelkompass.de) in Deutschland in Zusammenarbeit mit Ver.di erst seit ganz kurzer Zeit (seit 2021) und hat bei Weitem noch keinen Organisationsgrad erreicht, der eine durchsetzungsstarke Interessenvertretung gewährleistet. In den USA ist The Model Alliance zwar schon länger aktiv (seit 2012), was für die MeToo-Bewegung bereits eine gewisse Rolle gespielt haben könnte, aber die bis mindestens 2014 andauernden ausbeuterischen Verhältnisse bei Abercrombie & Fitch hat dies nicht verhindern können – in der BBC-Dokumentation kommen irgendwelche gewerkschaftsähnlichen Strukturen erst gar nicht zur Sprache.
Fazit: Sexueller Missbrauch in der Modebranche ist nicht auf Frauen beschränkt. Der Druck, der auf vielen jungen (und in der Mehrzahl der Fälle heterosexuellen) Männern lastet, ist oft ähnlich, wenn nicht sogar stärker, da es nachweislich in vielen Fällen hohe Schamgrenzen gibt, die Männer hindern, über die Erlebnisse zu sprechen. Der Fall Abercrombie & Fitch ist zwar ein Extremfall, sollte aber zu einer nachhaltigen Aufarbeitung und Änderung der Lebens- und Arbeitsverhältnisse im Modelbereich führen.
Redaktioneller Hinweis: Ich danke Michael Kühnapfel für das Korrekturlesen und Hinweise zur Überarbeitung des Textes.
Quelle Beitragsbild: AdobeStock_971476950
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