Familiäre Gewalt im Fokus – Eine Buchrezension von MANNdat
John Hamel / Tonia L. Nicholls (Hrsg.): Familiäre Gewalt im Fokus.
Eine Buchrezension von Dr. Bruno Köhler
John Hamel / Tonia L. Nicholls (Hrsg.), Fakten – Behandlungsmodelle – Prävention
740 Seiten, Hardcover mit Fadenheftung, 39,90€ (auch als eBook)
Verlag: Ikaru (24. Oktober 2014), Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3927076708, ISBN-13: 978-3927076709
Vom Hersteller empfohlenes Alter: Ab 18 Jahren
Originaltitel: Family Interventions in Domestic Violence
Das gut 740 Seiten starke Buch enthält Beiträge von Experten aus allen Bereichen häuslicher und partnerschaftlicher Gewalt, auch über Gewaltauswirkungen auf Kinder, die Zeuge elterlicher Gewalt werden. Herausgeber der amerikanischen Fassung sind der Gewaltexperte John Hamel und die Psychologieprofessorin Tonia L. Nicholls. Herausgeber der deutschsprachigen Ausgabe ist der renommierte Soziologe Prof. Dr. Gerhardt Amendt, der auch ein Vorwort zur deutschsprachigen Ausgabe verfasst hat. Die 27 Fachbeiträge des Buches gliedern sich in zwei Teile, zum einen „Forschung und Theorie“ und zum anderen „Assessment und Therapie“.
Was das Buch so einzigartig macht, ist der neuartige Geschlechteransatz. Früher wurde ein relevanter Anteil von Männern als Opfer von häuslicher Gewalt ebenso wie ein relevanter Anteil von Frauen als Täterinnen bei häuslicher Gewalt auch in den USA geleugnet. Stattdessen wurde ein ideologisch konstruiertes Modell für häusliche Gewalt verwendet, das in den USA als Duluth-Modell bezeichnet wird. Nach diesem Modell, auf dessen Basis das Duluth Domestic Abuse Intervention Project (DAIP) in den USA als Standardprogramm für die Bekämpfung häuslicher Gewalt eingeführt wurde (und auch heute noch verwendet wird), beruhe jeglicher Missbrauch „aus dem durch Männer hervorgerufenen Bedürfnis nach ´Macht und Kontrolle´“ (S. 66). Nach einem solchen Modell kann es deshalb definitionsgemäß nur häusliche Gewalt durch Männer geben, was auch jahrelang so behauptet wurde, auch in Deutschland. „95 Prozent der häuslichen Gewalt ist männlich“, berichtete z.B. Doris Wieferich, Leiterin der Gewaltberatungseinrichtungen im Landkreis Diepholz, vor nicht allzu langer Zeit im Weser Kurier. Im Dezember 2012 behauptete auch Ulrike Kreuels, die Gleichstellungsbeauftragte des Rhein-Kreises Neuss, 95 Prozent der Fälle der Täter häuslicher Gewalt seien männlich.
Nun haben aber unzählige Studien gezeigt, dass Gewalt in heterosexuellen Beziehungen in etwa gleichem Maße von Frauen wie Männern ausgeht. Schon 2005 hat John Hamel festgestellt, dass „die Taktik im herkömmlichen ´Rad von Macht und Beherrschung´ üblicherweise auf Männer angewandt wird, aber genauso auf gewalttätige Frauen Anwendung finden könnte“ (S.381). So hat sich in den USA die Argumentation dahingehend verschoben, dass nun entsprechend dem Duluth-Modell behauptet wird, lediglich die Gewalt von Männern basiere auf niederen Beweggründen, wie Beherrschung und Unterdrückung, während die häusliche Gewalt von Frauen aus Gründen der Notwehr entstehe. Auch wenn diese Behauptung bis heute nicht wissenschaftlich belegt werden konnte, vielmehr sogar nachgewiesen wurde, dass lediglich auf drei Prozent aller Männer das Stereotyp des terrorisierenden Mannes zutrifft (S. 67), fand sie auch in Deutschland erfolgreich Aufnahme in die Diskussion über häusliche Gewalt, macht sie doch das Überbordwerfen ebenso gewohnter wie liebgewonnener Täter-Opfer-Stereotypen überflüssig. Wie radikal diese Dogmen zu häuslicher Gewalt von der Geschlechterpolitik bis heute auch in Deutschland verteidigt werden, zeigte der Fall Monika Ebeling. Ebeling wurde 2011 als Gleichstellungsbeauftragte in Goslar von ihrem Amt enthoben und verlor auch gleich danach noch ihre Anstellung als Kindergartenleiterin, weil sie es wagte, beim Thema häusliche Gewalt auch nach männlichen Gewaltopfern zu fragen.
Das Buch nun wagt den Schritt, familiäre Gewalt unabhängig von ideologischen Stereotypen objektiv aufzuarbeiten und auch männliche Opfer zu thematisieren ebenso wie weibliche Gewalttäterinnen, ohne jedoch in das gegenteilige Extrem zu verfallen und männliche Täterschaft und weibliche Opfer zu verharmlosen. Die Autoren des Buches beschreiben häusliche Gewalt als aggressive Form des Bedürfnisses nach Macht und Kontrolle in Beziehungen, unabhängig vom Geschlecht (S. 21). Durch diese völlig neue, ideologieferne Sichtweise, jenseits der vorrangigen Befriedigung von Ressentiments gegen Jungen und Männer, wie es Abhandlungen zu dem Thema üblicherweise tun, eröffnet das Buch völlig neue Perspektiven, nicht nur auf das Thema häusliche Gewalt, sondern auf die geschlechterpolitische Diskussion insgesamt.
Deshalb verwundert es nicht, dass mit dem Soziologen Prof. Dr. Gerhardt Amendt einer der Vorkämpfer für eine solche ideologiefreie Sichtweise des Problems der Herausgeber der deutschsprachigen Übersetzung dieses wegweisenden Buches ist. So meint Amendt in seinem Vorwort zur deutschsprachigen Ausgabe: „Das Buch ist ein Beitrag zu einer Wende in der Gewaltdebatte, nämlich einer Wende von der politisch-ideologisch motivierten Parteilichkeit hin zu einer wissenschaftlich begründeten Hilfe.“
Amendt war es auch, der in Deutschland die Idee einer Umwandlung der Frauenhäuser in Gewaltschutzhäuser vorbrachte, wie es in dem Buch Carol Ensign und Patricia Jones im Beitrag „Vom Frauenhaus zum Hilfezentrum für die ganze Familie“ (S. 657) vorschlagen, was ihn zum Ziel rücksichtloser persönlicher Attacken durch das geschlechterpolitische Establishment und seinen Diffamierungsschergen machte.
Besonders erwähnenswert aus Sicht von Menschen, die sich trotz jungen- und männerfeindlichen Mainstreams noch ihre Empathie auch gegen männliche Gewaltopfer bewahrt haben, ist natürlich der spezifische Beitrag „Männliche Opfer häuslicher Gewalt“ von David L. Fontes. Die Kritik am Duluth-Modell und die Betrachtung beider Opfer- und Tätergruppen – weibliche wie männliche – durchzieht allerdings konsequent das ganze Buch. Fontes geht in seinem Beitrag auch auf die ambivalente gesellschaftliche Wahrnehmung von Gewalttaten abhängig vom Geschlecht ein. So berichtet eine Direktorin eines Zentrums für häusliche Gewalt, „dass viele weibliche Gewalttäter, mit denen sie arbeitet, ihre männlichen Partner ohrfeigen, wenn sie sich schlecht benehmen, und dass diese Frauen solche Übergriffe als ´Seifenoper´-Klatschen abtun – ein typisches Beispiel für das weibliche Vorrecht, das in der heutigen Gesellschaft ein zunehmend beunruhigender Trend ist.“ (S. 381). Hier sei analog in Deutschland auf die Werbung gegen Handytelefonieren am Steuer hingewiesen, die diese Form weiblicher Gewalt gegen Männer verherrlichend benutzt. Die Werbung wird übrigens von der Bundesregierung gefördert.
Gerade für die Väterbewegung interessant ist, dass das Buch auch den Begriff der Gewalt von rein physischer auch auf psychische Gewalt erweitert, wie sie z.B. durch Liebes- oder Kindesentzug entstehen kann (S.132).
Zwar beschreibt das Buch die Zustände in den USA, aber diese sind vergleichbar mit denen in Deutschland und deshalb auch für die Zustände in Deutschland eine wichtige Hilfe und Informationsquelle. Nur wenn man die Namen von Einrichtungen liest, wird einem kurz wieder ins Gedächtnis gerufen, dass man von Virginia, Kalifornien und Missouri liest und nicht von Bayern, Hamburg oder Sachsen. Gleichzeitig liefert es aber auch interessante Einblicke in die geschlechterpolitische Diskussion in den USA. So ist z.B. die Erkenntnis interessant, dass in den USA der stereotype Frauenopfer/Männertäter-Dualismus und die These vom Patriarchat und die Verteidigung männlicher Privilegien als Ursache häuslicher Gewalt als „Genderfeminismus“ bezeichnet werden. „Gender-Feministen betrachten jede Diskussion zum Thema männliche Opfer als Bedrohung ihres Paradigmas.“ (S. 383). Und weiter: „Gender-Feministen sind eine enorme Hürde, wenn es um Gespräche über die Bedürfnisse männlicher Opfer geht.“ (S. 384). Während in Deutschland „Gender“ oftmals immer noch im Zusammenhang mit „Gleichberechtigung“ verkauft und verstanden wird, ist in den USA „Gender“ offenbar eindeutig mit dem Kolportieren negativer Menschenbilder von Jungen und Männern verbunden (S. 19).
Zweifellos gibt es auch in den USA ebenso wie in Deutschland ähnliche Einrichtungen wie die Gleichstellungsstellen und das von der Bundesregierung mit Steuergeldern finanzierte Bundesforum Männer, die weiterhin versuchen, männliche Opfer vehement zu marginalisieren, aber in der USA scheint die Debatte doch fortgeschrittener zu sein als in Deutschland.
Durch den umfangreichen Index am Ende des Buches können gezielt Beiträge und Aussagen zu bestimmten Stichwörtern gesucht werden, was das Buch quasi zu einem Lexikon zum Thema häusliche Gewalt macht.
Interessant wäre vielleicht noch eine etwas detailliertere geschlechterspezifische Betrachtung von Kindern als Gewaltopfer familiärer Gewalt gewesen.
Fazit
Das Buch ist nicht nur eine umfassende Zusammenfassung des Standes der Wissenschaft und Hilfe für die Praxis. Es macht endlich einmal konsequent das, was uns die Geschlechterpolitik seit 40 Jahren verspricht, aber bislang nie gehalten hat. Es behandelt das Thema konsequent und pragmatisch gleichberechtigt. Auch Männer als Opfer und Frauen als Täter werden in den Blick genommen. Es tut nicht nur so, als würde es die Anliegen und Belange beider Geschlechter objektiv berücksichtigen, sondern macht es auch. Und schon öffnen sich ganz neue Perspektiven und Lösungen. Es ist damit ein wirklich bahnbrechendes Werk.
Nicht nur für Ärzte, Richter, Gutachter, Psychologen und alle anderen, die konkret mit Gewaltkonflikten in der Praxis befasst sind, ist das Buch eine Quelle für Hintergrundwissen. Es wendet sich vielmehr an alle Menschen, die sich mit dem Thema objektiv, fern von ideologischen Verzerrungen, beschäftigen wollen und die auch wirklich etwas daran ändern wollen, anstatt lediglich Gefallen daran finden, häusliche Gewalt immer wieder nur zu bejammern.
Wir können das Buch wärmstens empfehlen.
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Lesermeinungen
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Was ein eindeutig fataler Irrtum ist, dass häusliche Gewalt zu ungefähr gleichen Teilen von Männern und Frauen verübt wird. Das ist schlichtweg falsch.
‚Missbrauch mit dem Missbrauch‘: ein Thema, auf das gar nicht genug aufmerksam gemacht werden kann, findet sich auch in dem fundiert reflektierten Blog http://www.falscher-missbrauchsverdacht.blogspot.de
der kurz und übersichtlich in die komplexe Thematik einführt, und der auch das Thema ‚Häusliche Gewalt durch Frauen/Mütter‘ nicht auslässt.
Maria Reinecke, Berlin
http://www.maria-reinecke.de
Ich finde die Rezension sehr gelungen.
Ich sehe eine thematische Schnittmenge mit dem „Missbrauch mit dem Missbrauch“.
Als Betroffener habe ich mich damit intensiv auseinandergesetzt. Auch durch Lektüre zweier Fachbücher:
– Fegert J.M., et. al. (2015) Sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen. 1. Aufl., Springer Verlag
– Egle U.L., et. al. (2016) Sexueller Missbrauch, Misshandlung, Vernachlässigung. 4. Aufl., Schattauer Verlag
Ich sehe Überschneidungen zwischen beiden Themen und möchte daher wie folgt kommentieren:
– Die o.g. Bücher sind für interdisziplinäre Fachleute geschrieben, also Juristen, Mediziner, Psychologen, Pädagogen. Daher enthalten sie wenig Fachsprache der jeweiligen Disziplinen, was der Lesbarkeit für interessierte Laien zugute kommt. Erstrangig aus deutscher Sicht.
In ihrer Rezension steht dies nicht explizit, klingt aber indirekt durch die Empfehlung für Laien durch.
– Die Vorurteile, was die Täter-Opfer-Verteilung betrifft, dürften für beide Themen sehr ähnlich sein.
– Die Faktenlage spricht in beiden Gebieten dagegen. Auch ich war überrascht, dass die offizielle Geschlechterquote von Tatverdächtigen im Kriminalitätsbericht der Berliner Polizei bei häuslicher Gewalt seit Jahren stabil von 25% weiblichen Tatverdächtigen berichtet.
– Auch im Bereich Missbrauch mit dem Missbrauch gibt es Erhebungen zur Quote von bewussten Falschbeschuldigungen (nicht Verfahrenseinstellungen aus Mangel an Beweisen, o.ä.!) und „realen Beschuldigungen“ gerade in Familienverfahren. Beim Vorwurf des sexuellen Missbrauchs in Kindschaftssachen findet man Werte von 50-95% haltloser Beschuldigungen!
– Das zweitgenannte Buch hat immerhin Prof. Matthias Franz, Düsseldorf, als einen der Autoren, für das Kapitel „Langzeitfolgen von Trennung und Scheidung“. In diesem Kapitel wird auch die Problematik der Vaterlosigkeit von Aufwachsenden besprochen und „Väterentsorgung“ als psychische Kindesmisshandlung bezeichnet.
– Im erstgenannten Buch gibt es explizit ein Unterkapitel mit dem Titel „Missbrauch mit dem Missbrauch“. Etwas über eine Spalte, inkl. weiterführender Literaturquellen. Ich bin der Auffassung, dass der Umfang angemessen ist, da dass Buch in erster Linie echte Missbrauchsfälle besprechen will. Dazu stehen n anderen Kapiteln dieses Buches sinngemäß Sätze wie: „Bei Verdacht auf sex. M. muss man im Umgang mit dem Beschuldigten auch immer daran denken, dass es sich um eine Falschbeschuldigung handeln könnte.“ „Auch vorsätzlich falsche Beschuldigungen sexuellen Missbrauchs sind seelische Kindesmisshandlung.“ „Ein Kind, dass fälschlicher Weise in der Überzeugung aufwächst, von einem Elternteil sexuell missbraucht worden zu sein, hat ein erhebliches Entwicklungsrisiko.“ „Auch Frauen können, selbst oder durch Mithilfe, Täter sein.“ etc.
– Gerade das erstgenannte Buch kann ich jedem Betroffenen empfehlen, da dort familien- und strafrechtliche Aspekte, die Begutachtung von Kindern und Beschuldigten, inkl. Aussagepsychologie, sowie medizinische Untersuchungen detailliert beschrieben werden und vieles mehr.
– Die o.g. Bücher sind zwar nicht „veröffentliche Meinung“ wie etwa eine ARD-Dokumentation oder die Bild-Zeitung, aber doch Stand der Wissenschaft/Mainstream in Fachkreisen.
Mich jedenfalls hat diese Lektüre deutlich beruhigt, was z.B. eine mögliche Beschädigung meiner Kinder durch eine Begutachtung betrifft.
Die Lektüre und weiterführende Recherche hat mich auch zu der Einsicht gebracht, dass in qualifizierten Fachkreisen durchaus mit Falschbeschuldigungen in beiden Bereichen gerechnet wird und diese den Falschbeschudigerinnen auch durchaus „auf die Füße fallen können“.
Interessante weiter Texte zum Thema findet man u.a. auch:
http://www.induzierte-erinnerungen.de/viewtopic.php?t=275&postdays=0&postorder=asc&start=30