Offener Brief an Bundesfamilienministerin Schröder
In der Diskussion über die Opfer sexuellen Missbrauchs ist meist von „Kindern“ oder „Zöglingen“ die Rede. Das Wort „Jungen“ kommt Journalisten und Politikern nur schwer über die Lippen. Mit männlichen Opfern scheinen sie ihre Probleme zu haben.
In die medial ausgekostete Schadenfreude über den moralischen Absturz der Kirchen scheint sich ein Anflug von schlechtem Gewissen zu mischen. Warum ist das so? Dieser Frage geht MANNdat in einem Offenen Brief an die für Jungen zuständige Bundesministerin Kristina Schröder nach.
13.Mai 2010
Sehr geehrte Frau Ministerin Schröder,
im Brennpunkt der medialen Debatte zum Missbrauch steht derzeit die katholische Kirche, weil diese seit jeher höchste moralische Ansprüche an ihre Mitglieder stellt. Beim medial ausgekosteten moralischen Absturz der Kirchen und Kirchenmänner wird deshalb vor allem Augenmerk auf die Täter gelegt.
Unsägliches Leid wird hier beschrieben. Aber etwas ist anders als bei früheren Missbrauchs-debatten. Hier handelt es sich um Jungen, die massenhaft missbraucht wurden. In der Diskussion über die Missbrauchsopfer ist jedoch lediglich allgemein von „Kindern“, „Zöglingen“ oder „Opfern“ die Rede. Das Wort „Jungen“ kommt den Medienverantwortlichen ebenso schwer über die Lippen wie den Politikern. Nicht nur Fachleute, wie der Psychologe Peter Mosser von der Münchener Opferberatungsstelle Kibs, der an dem „Runden Tisch zu den Missbrauchsfällen“ teilgenommen hat, sind enttäuscht, dass die spezifischen Aspekte männ-licher Opfer außen vor blieben. Offenbar haben die Öffentlichkeit, die Medien und die Politiker Probleme mit männlichen Opfern.
Seit sexueller Missbrauch enttabuisiert wurde, ging es weniger um Kinder allgemein, sondern speziell um Mädchen, die missbraucht wurden. Für Jungen als Opfer war und ist wenig Platz. Gewalt gegen Frauen und Mädchen „kommt nicht in die Tüte“, wie es so schön auf Aktionen mancher Bäckereien heißt, Gewalt gegen Jungen offenbar schon. Dabei sind Jungen laut polizeilicher Statistik und WHO-Studien häufiger Opfer von Gewalt als Mädchen. Die Vernachlässigung von Jungen als Gewaltopfer ist deshalb nicht sachlich gerechtfertigt. Die Gesellschaft will aber keine schwachen, männlichen Opfer, nur männliche Täter.
Dabei handelt es sich nicht nur, wenn auch mehrheitlich, um männliche Täter. Aber seit Bar-bara Kavemann schon vor über zehn Jahren auch auf weibliche Täterschaft hinwies, stehen Täterinnen nach wie vor unter dem Schutz politischer Tabuisierung.
Die Ignoranz gegenüber Jungen als Gewaltopfer ist in unserer Gesellschaft schon so groß, dass fast alle Jugendhilfsorganisationen heute spezielle Hilfsprogramme ausschließlich für Mädchen als Gewaltopfer anbieten. Unsere Gesellschaft spendet lieber, wenn sie weiß, dass Jungen nicht davon profitieren.
Im Jahr 2000 war bei der Plakataktion »Mehr Respekt vor Kindern« des Bundesjugendminis-teriums unter Führung der damaligen Ministerin Bergmann auf dem Plakat mit dem abgebil-deten Mädchen zu lesen: »Man muss ein Kind nicht schlagen, um es zu verletzen«. Das Mädchen wurde als Mensch dargestellt, der um seiner selbst willen nicht verletzt werden darf. Demgegenüber hieß es auf dem Jungenplakat: »Wer Schläge einsteckt, wird Schläge austei-len«. Damit brachte das Ministerium wenig empathisch zum Ausdruck, dass es sich für geschlagene Jungen als Täterpotential und weniger als Opfer interessierte.
Ausgerechnet diese damalige Ministerin Bergmann wurde nun zur neuen Missbrauchsbe-auftragen der Bundesregierung ernannt. Soll damit das Rad der Erkenntnis zurück gedreht werden? Also wieder nur die Betrachtung männlicher Gewaltopfer als Täterpotential?
Derzeit wird im Bundestag ein Gesetzesentwurf diskutiert, der jegliche Art der Beschneidung von Mädchen auch außerhalb von Deutschland ächtet, ohne dass die Beschneidung von Jun-gen überhaupt betrachtet wurde. Das setzt aber die Verneinung der Gleichstellung des Rechtes auf Schutz vor körperlicher Unversehrtheit für Jungen voraus.
Die neu eingerichtete „Gleichstellungspolitik für Jungen und Männer“ zieht es bislang jedenfalls vor, zu dem Thema „Jungen als Gewaltopfer“ zu schweigen. Auch das „Bundesforum Männer“, federführend darunter übrigens die kirchlichen Männerorganisationen, distanziert sich ausdrücklich von Jungen- und Männerrechtlern, die eine Gleichstellung männlicher Ge-waltopfer fordern.
Die Glaubwürdigkeit des Wunsches der Geschlechterpolitik nach neuen Rollenbildern für Jungen wird sich daran messen lassen müssen, inwieweit sie bereit ist, männliche Gewaltopfer weiblichen gleichzustellen. Bitte bedenken Sie, dass solche Verbrechen gegen Jungen, wie sie derzeit in der Missbrauchsdebatte diskutiert werden, nur so lange verschwiegen werden können, solange männliche Gewaltopfer tabuisiert werden.
Deshalb appellieren wir an Sie als Jugendministerin, Jungen ohne Vorbehalt in ihrer Verletz-lichkeit anzunehmen, Gewalt gegen Jungen und Männer zu enttabuisieren und männliche Opfer weiblichen Opfern gleichzustellen.
MANNdat e.V.
Bildquelle: (c) Gerd Altmann/www.pixelio.de
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