Jungen und Geschlechterpolitik
Beitrag von Dr. Bruno Köhler im Buch „Handbuch Jungen-Pädagogik“ von Michael Matzner und Wolfgang Tischner (Hrsg.) auf S. 331 – 342, Beltz-Verlag Weinheim und Basel, 2008, ISBN: 978-3-407-83163-7
Jungen weisen häufiger Entwicklungsverzögerungen auf und haben häufiger chronische Krankheiten sowie grob- und feinmotorische und sprachliche Beeinträchtigungen als Mädchen (Kultusministerium 2007). 82 bis 95 Prozent der ADHD-Therapierten sind Jungen (Guggenbühl 2006, S. 34).
Der Jungenanteil in Gymnasien lag 2000 bei 46 Prozent und sank bis 2006 auf 44 Prozent (Statistisches Bundesamt 2006a, S. 130/ Preuss-Lausitz 2006, S. 68). In Hauptschulen beträgt dagegen der Jungenanteil heute bundesweit 56 Prozent (Preuss-Lausitz 2006, S. 68). Über 60 Prozent der Jugendlichen ohne Schulabschluss sind männlichen Geschlechts (Statistisches Bundesamt 2007).
»Die Leistungsschwäche der Jungen im Bereich Lesekompetenz stellt in Deutschland wie auch in den meisten anderen OECD Staaten ein gravierendes Problem dar, […] und in der mathematischen Grundbildung ist der durchschnittliche Vorsprung der Jungen offenbar nur auf die herausragenden Leistungen einiger zurückzuführen« (OECD 2001). »Die OECD erklärte im Sommer die Leseförderung der Jungen weltweit zu einem vorrangigen Ziel von Bildung« (Gaile 2005, S 117).
Fast ein Viertel der männlichen Migrantenjugendlichen verließen 2003 die Schule ohne einen Abschluss (Statistisches Bundesamt 2004). 68 Prozent der »Schulschwänzer« und 60 Prozent der Kinder, die bei der Einschulung zurückgestellt werden, sind Jungen. Jungen leiden zweieinhalb Mal häufiger unter Lese-Rechtschreibschwäche (Bentheim/Murphy-Witt 2007, S. 47). In allen Bundesländern betrug der Jungenanteil in Sonderschulen in den Jahren 2004/2005 über 60 Prozent. (Statistisches Bundesamt 2006a, S. 130)
In der Altersgruppe bis 25 Jahren waren Männer im Jahr 2005 um 40 Prozent häufiger von Arbeitslosigkeit betroffen als Frauen (Planque/Kolf 2006, S. 8). 2005 erwarben 9 Prozent Männer weniger als zehn Jahre zuvor einen Studienabschluss, in der Fächergruppe Ingenieurwissenschaften sogar 32 Prozent weniger (Statistisches Bundesamt 2006b).
Aufgrund dieser Befunde kann heute ein schlechteres Bildungsniveau von Jungen gegenüber Mädchen konstatiert werden. Es ist deshalb gerechtfertigt, Jungen als die Benachteiligten und die Verlierer des derzeitigen Bildungssystems und der derzeitigen Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik zu bezeichnen. Zudem besteht die Gefahr, dass die betroffenen Jungen auch als Erwachsene zu den Verlierern in unserer Gesellschaft gehören werden. Ein Ergebnis, das in einem Land, in dem Bildung der wichtigste volkswirtschaftliche Faktor darstellt und in dem ein Fachkräftemangel beklagt wird, eigentlich Anlass zur ernsthaften Besorgnis geben müsste.
Trotzdem besteht ein eklatantes Missverhältnis von Jungenförderung zu Mädchenförderung. Die Glaubwürdigkeit von Geschlechterpolitik wird sich daran messen lassen müssen, inwieweit sie bereit ist, sich auch diesen jungenspezifischen Problemen ernsthaft zu stellen.
Werfen wir deshalb einen Blick auf die Geschlechterpolitik aus dem Blickwinkel jungenspezifischer Zukunftsperspektiven.
Historie
Früher existierte ein geschlechterspezifisches Gefälle in der Bildung zum Nachteil der Mädchen. Im Zuge der Frauenbewegung begann deshalb in den 70er Jahren eine ausgeprägte Mädchenförderung (Krabel 1998, S 10).
In den 80er Jahren nahm der Feminismus die Jungen konfrontativ in den Blick. So schrieb Marianne Grabrucker in »Typisch Mädchen« 1985: »[…] die Anerkennung der Mädchen kann nur auf Kosten der kleinen Buben geschehen« (Schmauch 2005, S. 29). In der Frauenzeitschrift EMMA hieß es 1986: »Wenn wir wirklich wollen, dass es unsere Töchter einmal leichter haben, müssen wir es unseren Söhnen schwerer machen« (Schmauch 2005, S. 29).
Ausgehend von vereinfachenden Patriarchatstheorien mit ihrem hegemonialen Männlichkeitsansatz wurden die typischen Stereotype des geschlechterpolitischen Denkens der 80er Jahre geprägt. Mädchen und Frauen wurden zum »Opfergeschlecht«, Jungen und Männer zum »Tätergeschlecht«. Auf diesen Theorien aufbauend entstand eine ebenso stereotype geschlechterspezifische Jugendarbeit – Mädchen fördern und stärken, Jungen sanktionieren und umerziehen. Dieser Ansatz birgt Gefahren.
»Problematisch ist, wenn die Jungenarbeit von einem defizitären Männerbild ausgeht. Statt auf Jungen einzugehen und ihre Psychologie zu reflektieren, will man sie eigentlich umerziehen. […] Diese Jungenarbeit will in den Jungen eine kritische Distanz zu ›falschen männlichen Werten‹ entwickeln und versteht sich als emanzipatorisch, profeministisch und antisexistisch. […] Das Problem dieser Form von Jungenarbeit ist, dass sie nicht auf die Psychologie der Jungen eingeht. Sie lässt sich für ein ideologisches Ziel einspannen, leistet eigentlich keine wirkliche Jungenarbeit, sondern bietet ein Umerziehungsprogramm an. Wenn Massage statt Kämpfe, Kooperation statt Konkurrenz, Bescheidenheit statt Prahlen gefordert wird, dann werden typische Jungencharakteristiken pathologisiert« (Guggenbühl 2006, S. 37).
Ab Ende der 80er Jahre gab es, ausgehend von Frauenministerien und Frauenbeauftragten, von der kommunalen bis zur bundespolitischen Ebene eine flächendeckende Mädchenförderung.
Ab den 90er Jahren manifestierten Gleichstellungsgesetze in Bund und Ländern eine Ausrichtung der Geschlechterpolitik auf die »Frauenquote«, indem frauenspezifisch einzelfallbezogene Quoten in Behörden eingeführt wurden, wie sie auch heute noch gültig sind. Bei Unterrepräsentanz von Frauen muss bei gleicher Qualifikation der männliche Bewerber bei Beförderung oder Einstellung benachteiligt werden.
Im umgekehrten Falle, also in Berufsbereichen mit einer Männerunterrepräsentanz, z.B. im Erziehungswesen oder im Grund- und Hauptschulbereich, galt und gilt eine solche einzelfallbezogene Quotenregelung für Männer nicht. Damit wurde männerspezifische Diskriminierung – sog. »positive« Diskriminierung – zum legalen und anerkannten Werkzeug der Geschlechterpolitik. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass diejenigen, die einst auszogen, um geschlechterspezifische Diskriminierung abzuschaffen, mittlerweile die größten Verfechter einer Legalisierung von geschlechterspezifischer Diskriminierung geworden sind.
Ende der 90er Jahre bis Anfang des neuen Jahrtausends waren die Geschlechterstereotypen »Mädchenopfer – Jungentäter« bereits unhinterfragt die Grundlage der Jugend- und Bildungspolitik geworden.
Als Beispiel sei Sachsen-Anhalt genannt. In der »Bilanz der Chancengleicheitspolitik der Landesregierung (1998– 2001)« sind über 30 Frauen- und Mädchenförderprogramme aufgeführt, aber kein einziges Jungenförderprojekt. Nur ein Projekt ist für Männer, eine Beratungsstelle für gewalttätige männliche Jugendliche und Männer (MANNdat 2006, S. 12).
Im Jahr 2000 zeigte eine Plakataktion »Mehr Respekt vor Kindern« des Bundesjugendministeriums den Status Quo. Die an sich begrüßenswerte Aktion gab den weiblichen und männlichen Kinderopfern auf den Plakaten verschiedene Bedeutungen. Während auf dem Mädchenplakat mit den Worten: »Man muss ein Kind nicht schlagen, um es zu verletzen« das Mädchen als Mensch gesehen wird, der um seiner selbst Willen nicht verletzt werden darf, steht auf dem Jungenplakat: »Wer Schläge einsteckt, wird Schläge austeilen«.
Professor Amendt kritisierte dies in einem Brief an die damalige Bundesjugendministerin Bergmann (SPD): »Sie bringen unumwunden zum Ausdruck, dass Sie sich nicht für die Seelen der Jungen in der Gegenwart interessieren, sondern nur dafür, wie geschlagene Jungen zu gefährlichen Männern der zukünftigen Generationen werden könnten« (Amendt 2001).
Zu diesem Zeitpunkt kam plötzlich die Bildungspolitik in den Blickpunkt der Öffentlichkeit. Was war geschehen?
Lange Zeit galt das deutsche Bildungssystem als eines der besten Bildungssysteme weltweit. Die Veröffentlichung der TIMSS (Third International Mathematics and Science Study) 1997 (Kerstan 1999), bei der Deutschland nur einen Mittelfeldplatz erreichte, war deshalb für viele überraschend.
Es dauerte noch bis zur ersten PISA-Studie des Jahres 2000, bis auch die breite Öffentlichkeit auf die Bildungsprobleme insgesamt und speziell bei Jungen aufmerksam wurde.
Erstmals tauchte öffentlich die Frage auf, ob nicht auch Jungen benachteiligt sein könnten. Hinzu kam ein neuer Ansatz in der Geschlechterpolitik – Gender Mainstreaming. Gender Mainstreaming sollte eine Geschlechterpolitik fördern, die die Belange beider Geschlechter berücksichtigt. Tatsächlich empfahl schon ein Jahr nach der ersten PISA Studie, im Jahr 2001, das Forum Bildung die Erweiterung des Berufswahlspektrums auf geschlechtsuntypische Berufe für Mädchen UND Jungen (Forum Bildung 2001, S. 23 f.).
Im selben Jahr 2001 startete dann allerdings in Deutschland das größte geschlechterspezifische Jugendförderprojekt aller Zeiten – der bundesweite Zukunftstag, eben eine solche Maßnahme zur Erweiterung des Berufswahlspektrums auf geschlechtsuntypische Berufsbereiche, wie es das Forum Bildung empfahl. Jungen wurden allerdings von Beginn an gezielt und bewusst ausgegrenzt.
Begründet wurde und wird diese Ausgrenzung von Jungen mit einem Fachkräftemangel und dem Wunsch, Mädchen »ungestört« technische Berufsfelder zeigen zu können. Hier sind wieder die alten Stereotype der 80er Jahre. Mädchen gelten als Benachteiligte (Opfer) allein durch die Anwesenheit der Jungen (Täter).
Aber einen Fachkräftemangel gibt es auch in männerunterrepräsentierten Berufsbereichen, z.B. im Sozialwesen oder in Grund- und Hauptschule. Zudem ist die Klage über einen Fachkräftemangel unglaubwürdig in einem Land, das sich Jungen als Bildungsverlierer leistet. Weiterhin ist nicht nachvollziehbar, wie Mädchen, die sich in einem Kfz-Betrieb umsehen, von Jungen gestört werden könnten, die sich gleichzeitig in einem Altersheim umschauen.
Die ehemalige Schulministerin von NRW, Ute Schäfer (SPD), behauptete angesichts von Mädchenzukunftstag und beruflicher Frauenförderung allen Ernstes, die geschützte Freiheit der Berufswahl verbiete es, Maßnahmen zur Erhöhung des Anteils männlicher Erzieher und Lehrer durchzuführen (Rheinische Zeitung 2003).
Diese Politik führte nach und nach auch zu kritischen Stimmen von Leuten, die die zunehmende Perspektivlosigkeit von Jungen problematisch sahen. Da die Bundespolitik Jungen nach wie vor keine gleichwertige Teilhabe am Zukunftstag gewähren wollte, wurde gerade noch rechtzeitig zum Wahljahr 2005 von der rot-grünen Regierung das Projekt »Neue Wege für Jungs« (NWfJ) eingeführt.
Das Projekt NWfJ ist weder finanziell noch personell auch nur annähernd vergleichbar mit Mädchen- oder Frauenförderprojekten und ist von seiner Konzeption nicht als Bildungsförderkonzept angelegt. So fördert das Bundesbildungsministerium zwar das Girls-Day-Projekt, das Projekt NWfJ jedoch nicht. NWfJ ist also kein Ausgleich für die Ausgrenzung von Jungen aus dem Zukunftstag oder anderen bildungspolitischen Fördermaßnahmen.
Eine gleichwertige Teilhabe von Jungen am Zukunftstag im Rahmen eines Zukunftstages für Mädchen UND Jungen gibt es bislang landesweit in Brandenburg und Niedersachsen. Niedersachsen stieß dabei vor allem auf Widerstand der Gewerkschaften (GEW Niedersachen 2006). Sachsen-Anhalt beabsichtigte 2007 ebenso eine gleiche Teilhabe von Jungen einzuführen, also ein Zukunftstag für Mädchen UND Jungen, stieß jedoch auf Widerstand der Landes- und der Bundeskoordinatorinnen für den Girls-Day (Kranert 2007).
2004 gab die rot-grüne Bundesregierung eine Studie »Viele Welten leben« heraus (BMFSFJ 2004). Darin wurden ausschließlich die geschlechtsspezifischen Integrationsprobleme weiblicher Migrantenjugendlicher beschrieben und analysiert.
Im nationalen Integrationsplan beschränkte die schwarz-rote Regierung 2007 schließlich das Genderthema wieder ausschließlich auf einen Themenbereich »Lebenssituation von Frauen und Mädchen verbessern«. So wurden die größten Bildungsverlierer in Deutschland, die Migrantenjungen, von der ersten Studie bis zum fertigen Integrationsplan geschlechterpolitisch durchgängig ausgegrenzt.
Auch die FDP als Opposition mahnte in einer großen Anfrage an den Bundestag in diesem Jahr ausschließlich die Bildungsförderung von Migrantinnen an, die von männlichen Migrantenjungen jedoch nicht (Deutscher Bundestag 2007).
Gender Mainstreaming ist an seinem Anspruch, jungen- und männerspezifische Belange in der Geschlechterpolitik gleichberechtigt zu berücksichtigen, bislang gescheitert. In der Praxis bleibt es oftmals beim bloßen Weglassen von Jungs. Ein echtes Gender Mainstreaming ist nicht realisierbar, solange es keine eigenständige Jungen- und Männerpolitik gibt, die in der Lage ist, solche jungen- und männerspezifische Belange in die Geschlechterpolitik einzubringen.
Jungen in der heutigen Geschlechterpolitik
Dass die Bildungssituation von Jungen heute in der Öffentlichkeit diskutiert wird, ist kein Ergebnis eines Gender Mainstreaming-Prozesses, sondern das Resultat internationaler Schulleistungsstudien, deren Ergebnisse es der Politik unmöglich machten, das Thema zu ignorieren.
Auf oberster politischer Ebene werden die Bildungsprobleme von Jungen noch bis heute kaum thematisiert.
Das Bundesbildungsministerium führt auch heute noch geschlechterspezifisch ausschließlich Frauen- und Mädchenförderprojekte durch, jedoch kein einziges Jungenförderprojekt. Symptomatisch ist, dass das Thema »Gender Mainstreaming« im Bundesbildungsministerium mittlerweile nur noch unter dem Thema »Frauen in Bildung und Forschung«, also als reines Frauenthema, geführt wird.
2007 wurden z.B. neue Programme im Bereich Mädchen- und Frauenförderung im Wert von über 150 Millionen Euro implementiert. Das Bundesjugendministerium stellte für die Prämierung vorbildlicher Projekte bei »Neue Wege für Jungs« 2007 bundesweit gerade mal 40 000 Euro bereit (Neue Wege für Jungs 2007).
Selbst bei der Jungenleseförderung hält sich das Bundesbildungsministerium zurück. Dabei müssen hier Eltern, Verlage und Bibliotheken mit ins Boot geholt werden. Hier hat das Bundesbildungsministerium eine initiierende und koordinierende Aufgabe. Mit einem Verweis auf die Zuständigkeit der Länder für die Schulpolitik kann sich das Bundesbildungsministerium seiner Verantwortung nicht entziehen.
Jungen erhalten in allen Schulfächern bei gleicher Leistung oftmals schlechtere Noten als Mädchen (Die Welt 2005/ BMBF 2008, S.17, 20, 24, 31).
Wie steht die derzeitige Bundesjugendministerin zur fehlenden Chancengleichheit für Jungen im Bildungsniveau? »Ich finde es nicht schlimm, dass Mädchen in Sachen Bildung an den Jungen vorbeiziehen« (Bundesregierung 2006). So die Aussage von Ministerin von der Leyen (CDU).
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion startete als Oppositionspartei im Mai 2004 eine Kleine Anfrage mit dem Titel »Verbesserung der Zukunftsperspektiven für Jungen« (BTDrs. 15/3516). Nach Meinung der CDU zeigte die Antwort der damaligen rot-grünen Bundesregierung (BT-Drs. 15/3607), »dass die Bundesregierung kein Gesamtkonzept zur geschlechtsspezifischen Förderung der Jungen hat«. Deshalb versprach die CDU, »die Jungen mit gezielter Förderung aus dem Abseits zu holen«. Die CDU stünde »in den Startlöchern, um nach der Regierungsübernahme [ihre] Ideen endlich umsetzen zu können« (CDU 2005).
Jetzt, als Regierungspartei, lehnt die CDU gezielte Jungenförderung ab. So meint das Bundeskanzleramt: »Tatsächlich ist Gleichberechtigung an den Schulen Realität, weshalb Mädchen aufgrund ihres Entwicklungsvorsprungs, größeren Fleißes und höherer Lernmotivation im Vorteil sind. Eine gezielte Jungenförderung ist allerdings keine Lösung« (Bundeskanzleramt 2007).
Diese Aussage ist fragwürdig, nicht nur weil die pauschale Unterstellung, Jungen seien weniger fleißig, jungendiskriminierend ist und einfach den Jungen die Schuld selbst zuschiebt. Schulen, die auf mädchentypische Belange ausgerichtet sind benachteiligen Jungen, auch wenn sie diese gleich behandeln. Außerdem wurden die früheren schlechteren Leistungen der Mädchen im Bereich Mathematik und Naturwissenschaften nicht zuletzt durch eine gezielte Mädchenförderung beseitigt (Bentheim/Murphy-Witt 2007).
Zudem stellte die IGLU-Studie 2005 ja fest, dass Jungen bei gleichen Schulleistungen schlechtere Noten bekommen (s.o.). Weiterhin müssen zur Umsetzung von Artikel 3 des Grundgesetzes nicht nur die unmittelbaren, sondern auch die mittelbaren Benachteiligungen beseitigt werden. Danach und im Sinne eines Gender Mainstreaming müssten die Jungen benachteiligenden Rahmenbedingungen durch die signifikant verzögerte Entwicklung im Bereich Motorik und Sprachfähigkeit durch gezielte Fördermaßnahmen ausgeglichen werden. Dies wird jedoch von der Politik bislang abgelehnt. Gleichberechtigung für Jungen existiert also nicht.
Das mangelnde Interesse der Politik an der Bildungssituation von Jungen erkennt man häufig an der Bildungsberichterstattung. So sind z.B. im 23-seitigen Bericht »OECD-Veröffentlichung ›Bildung auf einen Blick‹ Wesentliche Aussagen in der Ausgabe 2006« zwar Ausführungen zum Bildungsniveau und der Bildungsbeteiligung von jungen Frauen zu finden. Die Bildungssituation von Jungen wird jedoch nicht erwähnt (BMBF/Kultusministerkonferenz 2006).
Als MANNdat 2007 beim Statistischen Bundesamt Zahlen zu den Schulabschlüssen von Jungen erbeten hat, wurden zwei Tabellen zugesendet, die Gesamtdaten und die Mädchendaten, mit dem Kommentar: »Die Daten von Jungen werden bei uns nicht in der Regel gesondert nachgewiesen, …« (Destatis 2007).
Der Deutsche Bundestag öffnet am Zukunftstag Mädchen die Türen, um ihnen frauenunterrepräsentierte Berufsbereiche vorzustellen. Jungen werden ausgegrenzt. Dabei könnten Jungen sich an diesem Tag männerunterrepräsentierte Berufsbereiche im oder um den Bundestag anschauen, z.B. im Bereich Bürokommunikation, im Dienstleistungsbereich oder bei der bundestagseigenen Kinderbetreuung.
Auch Bundespräsident Horst Köhler hat in seiner Berliner Rede vom 21. September 2006 in der Kepler-Oberschule in Berlin-Neukölln zwar die Abhängigkeit des Bildungsniveaus der Kinder von der sozialen Stellung der Eltern und des Migrationshintergrundes kritisiert, die Abhängigkeit vom Geschlecht zuungunsten der Jungen kritisierte er jedoch nicht. (Bundespräsident 2006) Warum werden die Bildungsprobleme von Jungen so wenig beachtet?
»Im Juli 2003 bestreitet Waltraut Cornelißen, Leiterin der Abteilung Geschlechterforschung und Frauenpolitik am Deutschen Jugendinstitut in München, in der Frankfurter Rundschau keineswegs, dass ›das Vokabular von Lehrerinnen mit dem der Jungen weniger korrespondiert als mit dem der Mädchen‹ und die ›Feminisierung‹ durchaus ›die sprachliche Entwicklung von Jungen hemmen‹ könne. Doch unter Berücksichtigung aller Fakten auch auf Seiten der Mädchen wägt sie sozusagen geschlechterpolitisch ab: Ein Bildungsvorsprung ›sei für junge Frauen vorläufig oft bitter notwendig, um auch nur annährend gleiche Chancen im Beruf zu haben‹« (Neutzling 2005, S. 75).
Es gibt also Hinweise, dass zumindest ein Teil der politisch Verantwortlichen die Bildungsbenachteiligung von Jungen als »positive« Diskriminierung im Sinne einer Frauenförderung als gerechtfertigt sieht. Dies hieße, der Bildungsrückstand der Jungen würde zwar als Problem erkannt, aber er würde mit all seinen Konsequenzen wegen eines politischen Programms ganz bewusst in Kauf genommen.
Auch auf Länderebene existiert in den Parteien und Regierungen keine spezielle Politik für Jungen. Die Berücksichtigung jungenspezifischer Belange hängt deshalb vom Interesse der Minister an diesem Thema ab.
Im Gegensatz zur Bundespolitik sind einige positive Ansätze für eine Jungenbildungsförderung auf Länderebene zu finden. In Baden-Württemberg wurde z.B. 2006 ein Jungenleseprojekt »Kicken und Lesen« durchgeführt. In Niedersachsen gab es ein Vater-Jungen-Leseprojekt. In Niedersachsen und Brandenburg gilt der Zukunftstag für Mädchen UND Jungen. In Sachsen-Anhalt sind Bestrebungen zu einem Zukunftstag für Mädchen UND Jungen im Gange. In Bayern wurde sogar ein Arbeitskreis »Bubenförderung« im Bildungsministerium eingeführt. Unter Führung der Kultusministerkonferenz durch die Bildungsministerin von Schleswig-Holstein, Ute Erdsiek-Rave (SPD), hat 2006 eine erste Konferenz zur Leseförderung von Jungen stattgefunden. In Baden-Württemberg starteten Die Grünen im Jahr 2007 unter Renate Rastätter eine Initiative zu Bildungsförderung von Jungen.
Insgesamt gesehen, geschieht sieben Jahre nach der ersten PISA-Studie aber noch zu wenig, als dass man sagen könnte, die Politik würde sich der bildungspolitischen Herausforderung »Jungenförderung« stellen.
Bis heute, also acht Jahre nach der ersten PISA-Studie, gibt es keine Studie, die die Ursachen der schlechteren Bildungsleistung der Jungen ausreichend oder gar abschließend untersucht hätte.
Im Koalitionsvertrag von CDU und FDP in Baden-Württemberg findet man zwar die Absicht zur chancengleichen Bildung von Frauen, aber nicht für eine chancengleiche Bildung von Jungen (Koalitionsvereinbarung 2006, S 39).
Die Sozialministerin von Baden-Württemberg, Frau Stolz (CDU), fordert in einer Pressemeldung (SM 2007) die Förderung und Wahrnehmung der Potenziale von Migrantinnen. Von den vergeudeten Potenzialen männlicher Migrantenkinder – die Klientel mit den größten Bildungsproblemen – redet sie nicht.
Im Bremer Senat widmen sich elf von achtzehn Arbeitskreisen der Mädchen- und Frauenförderung, jedoch kein einziger Arbeitskreis speziell der Jungenförderung (Bremen online 2007).
In NRW wurde die Gender Mainstreaming-Stelle in der Jugendarbeit ausgerechnet im Verein »Frauen unterstützen Mädchenarbeit e.V.« eingerichtet. Zwar kooperiert dieser auch mit der LAG (Landesarbeitsgemeinschaft) Jungenarbeit, aber der Name zeigt deutlich die Ausrichtung von Gender Mainstreaming im Jugendbereich in NRW (FUMA 2007).
Weiterhin finden oftmals die Erkenntnisse zur jungenspezifischen Leseförderung noch zu wenig Berücksichtigung in den Schulen (MANNdat 2006, S. 3ff.).
Im kommunalen Bereich gibt es ein ausgeprägtes Netzwerk von Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten, die für eine Mädchenförderung in Städten und Gemeinden sorgen. Nur selten werden von diesen Einrichtungen auch Jungenprojekte initiiert oder unterstützt. Dies ist eine Ursache für ein enormes Missverhältnis von Jungenförderung zu Mädchenverförderung auf dieser Ebene.
Zeitweise hat man den Eindruck, man wolle Jungen weniger zu einer besseren Bildung verhelfen als sie dahin zu erziehen, sich mit ihrer Rolle als Bildungsverlierer abzufinden und zu arrangieren – der sozialverträgliche Bildungsverlierer als Ziel von Jungen»förderung«?
Hindernisse und Erfordernisse für eine Jungenförderung
1. Jungengerechte Schulen und Kindertagesstätten
Geschlechterspezifische Förderung beschränkt sich nach wie vor häufig im bloßen Weglassen und Ausgrenzen von Jungen. Dort wo Jungenförderung stattfindet, konzentriert sie sich oftmals auf antisexistische Sozialisation.
Geschlechterspezifische Förderung muss konsequent auch Jungen einbeziehen. Jungenförderung muss Jungen allgemein stärken und in den jungentypisch verzögerten Entwicklungsbereichen gezielt fördern, z.B. im sprachlichen oder feinmotorischen Bereich.
Schulen und Kindertagesstätten müssen stärker jungentypische Belange, Interessen und Verhaltensweisen berücksichtigen. Schulen, Verlage, Elternhäuser und Bibliotheken müssen stärker auf jungentypische Leseinteressen eingehen, um die Leselust und damit die Leseleistung von Jungen zu verbessern (Garbe 2005, S 16).
Die Gleichstellungsstellen auf kommunaler und Länderebene und Jugendeinrichtungen müssen zur Jungenförderung verpflichtet werden.
2. Lebensalternativen
Jungen müssen mehr positive Lebensalternativen zu Verfügung gestellt werden. Die Wehrpflicht sollte wie in den USA, Großbritannien, Frankreich oder Japan abgeschafft werden. Sie kann männlichen Jugendlichen den Übergang von Schule zu Beruf erschweren und fördert alte Männerrollenbilder. Die gewonnene Zeit könnte genutzt werden, um bei Bedarf Jungen später einzuschulen.
Rechtliche Hemmnisse, die Vätern eine gleichberechtigte Erziehungsarbeit mit ihren Kindern erschweren, sind zu beseitigen. Die berufliche Förderung in Gleichstellungsgesetzen ist geschlechtsneutral an der tatsächlich geleisteten Erziehungsarbeit festzumachen um erzeihende Mütter UND erziehende Väter zu unterstützen.
Väter diskriminierende Strukturen, wie z.B. die Abhängigkeit des Sorgerechtes für Väter nicht ehelicher Kinder vom Willen der Mutter, oder Benachteiligungen von Vätern im praktizierten Umgangsrecht, wie sie auch vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte beklagt werden (123recht 2006), sind abzuschaffen.
3. Lobby für Jungen
Jungen brauchen eine Lobby. Für eine konsequente und echte Umsetzung eines Gender Mainstreaming ist eine eigenständige Jungen- und Männerpolitik in den Parteien und Regierungen unverzichtbar, die die legitimen Interessen und Belange von Jungen und Männern in die geschlechterpolitische Diskussion einbringen kann.
Zusammenfassung
Jungen sind die klaren Bildungs- und Arbeitsmarktverlierer in Deutschland, trotzdem besteht ein ausgeprägtes Missverhältnis von Jungen- zu Mädchenförderung zuungunsten der Jungen. Geschlechtersensible Jugendpolitik beschränkt sich häufig immer noch im reinen Weglassen und Ausgrenzen von Jungen und jungenspezifischer Belange, was in der aktuellen Integrationspolitik deutlich wird.
Die vorhandene Jungenarbeit konzentriert sich vorwiegend auf antisexistische Sozialisation und weniger auf Bildungsförderung. Jungen zu mehr Selbstständigkeit im Haushalt zu erziehen ist ohne Frage sinnvoll. Aber allein mit Bügel- und Wickelkursen wird man die Bildungsprobleme von Jungen nicht lösen.
Die bisherige Gleichstellungspolitik hat keine Gleichstellung in der Bildung und auf dem Jugendarbeitsmarkt gebracht, sondern die komplette Umkehrung der Geschlechterverhältnisse. Gender Mainstreaming ist seinem Anspruch, die Belange BEIDER Geschlechter berücksichtigen zu wollen, nicht gerecht geworden.
Jungenspezifische Bildungsförderung ist auf bundespolitischer Ebene kein Thema. Die Bundesjugendministerin findet das schlechtere Bildungsniveau von Jungen »nicht schlimm«, das Bundesbildungsministerium beschränkt seine geschlechterspezifische Förderung auf Mädchen- und Frauenförderung und die Bundeskanzlerin lehnt gezielte Jungenbildungsförderung ab.
Auf Länderebene ist die Berücksichtigung jungenspezifischer Bildungsbelange unterschiedlich ausgeprägt. Vereinzelte positive Ansätze sind durchaus zu erkennen. Insgesamt tut sich aber noch zu wenig.
Wir haben in den letzten 30 Jahren Mädchen gefördert, um ihre Zukunftsperspektiven zu verbessern. Das war zwar sinnvoll, aber dabei haben die Jungen verloren, weil wir Ihre Belange vernachlässigt haben. Das Ergebnis ist ein Bildungssystem, das nicht auf die emotionalen und akademischen Bedürfnisse unserer Jungen eingeht und auch nur mit erschreckender Langsamkeit die Bereitschaft zum Wandel signalisiert.
Die große Gefahr dabei: Jungen klinken sich aus der Schule aus und suchen sich in virtuellen Computer-Welten die Bestätigung und Akzeptanz, die sie in unserer Gesellschaft und in der Schule nicht mehr finden.
Jungenförderung braucht eine unabhängige, eigenständige Jungenpolitik. Es geht nicht nur um die Glaubwürdigkeit von Geschlechterpolitik, sondern um die Zukunftsfähigkeit von Jungen. Wir brauchen politische Persönlichkeiten, die den Geschlechterkrieg endlich beenden und eine Geschlechterpolitik praktizieren, bei der Mädchen UND Jungen gewinnen. Die etablierten Parteien müssen sich um die Jungen kümmern, bevor es Parteien tun, die weniger Gutes im Schilde führen.
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