Studie: Jungenbeschneidung manifestiert Männerrollenbilder
Studie: Jungenbeschneidung manifestiert Männerrollenbilder
Am 12.12.2012 hat sich der Deutsche Bundestag für die Legalisierung von Körperverletzung an Jungen durch Beschneidung entschieden. Nur ein Jahr später wurde jegliche Form der Körperverletzung an Mädchen durch Beschneidung gesetzlich und strafbewehrt verboten. Dieser Maximalsexismus ist ein Paradebeispiel für den enormen Gender Empathy Gap von Politik, Medien und Gesellschaft. In Gleichstellungsberichten wird er regelmäßig verschwiegen.
Nun hat eine Studie diesen Gender Empathy Gap nochmals wissenschaftlich untersucht. Die Ergebnisse sind frappierend:
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Beschneidung von Jungen und Mädchen wird überwiegend aus Gründen der Religion praktiziert. Während bei Mädchen das Menschrecht auf körperliche Unversehrtheit bei uns also über die Religionsfreiheit gestellt wird, wird bei Jungen das Recht auf körperliche Unversehrtheit aus Gründen der Religion ignoriert.
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Wissenschaftler unterstützen diesen Gender Empathy Gap, indem sie Körperverletzung an Mädchen „Verstümmelung“ nennen und die entsprechende Körperverletzung an Jungen als „Beschneidung“ verharmlosen. [Hinweis in eigener Sache: MANNdat benutzt bei Mädchen wie Jungen den Begriff Beschneidung aus Respekt vor den Opfern dieser Praxis. Das Leid, das ihnen angetan wurde, ist groß genug, wir wollen sie nicht noch als „Verstümmelte“ herabsetzen]
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Die meisten Erhebungen über die Gründe für die männliche Beschneidung wurden in Nordamerika, Australien und in asiatischen Ländern schon vor über 20 Jahren durchgeführt, während keine Studien aus Afrika gefunden wurden, obwohl die Praxis der männlichen Beschneidung dort derzeit am meisten gefördert wird.. Im Gegensatz dazu wurden die meisten Erhebungen über die Gründe für weibliche Genitalverstümmelung in Afrika durchgeführt, da diese Eingriffe dort am häufigsten vorkommen.
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Speziell männliche Beschneidung findet aus Gründen der Zementierung des bestehenden Männerbildes statt.
Der Originalartikel
James L. Nuzzo: „Male circumcision’ and ‘female genital mutilation’: why parents choose the procedures and the case for gender bias in medical nomenclature“, The International Journal of Human Rights, Volume 27, 2023, Issue 8, S. 1205-1228; Onlineveröffentlichung am 20 Apr 2023; https://doi.org/10.1080/13642987.2023.2199202 oder https://www.tandfonline.com/action/showCopyRight?scroll=top&doi=10.1080%2F13642987.2023.2199202; jeweils Abruf 1.10.2024
Zusammenfassung der Studie:
Die Beschneidung der Genitalien von Jungen und Mädchen ist ein umstrittenes Menschenrechtsthema. Hier ging es zunächst darum, zusammenzufassen, warum sich Eltern dafür entscheiden, diese Eingriffe an ihren Kindern vornehmen zu lassen. Die Ergebnisse von 22 Erhebungsstudien zur „männlichen Beschneidung“ und 27 Studien zur „weiblichen Genitalverstümmelung“ zeigten, dass nichtmedizinische Gründe, wie z. B. die Tradition, bei der Entscheidung für beide Verfahren eine wichtige Rolle spielen. Das zweite Ziel bestand darin, die Verwendung von medizinischen Begriffen (z. B. „Beschneidung“) und nichtmedizinischen Begriffen (z. B. „Beschneidung“, „Verstümmelung“) durch Forscher zu beschreiben, wenn sie sich auf diese Verfahren beziehen. Relevante Begriffe wurden in den Titeln und Zusammenfassungen der in PubMed indizierten Artikel gesucht. Die Gesamtzahl der Artikel war für männliche (1721 Artikel) und weibliche (1906 Artikel) Verfahren ähnlich. Bei den weiblichen Verfahren wurde jedoch der Begriff „Genitalverstümmelung“ am häufigsten verwendet (61,7 % der Artikel), während bei den männlichen Verfahren fast ausschließlich der Begriff „Beschneidung“ verwendet wurde (99,4 %). Da beide Verfahren mit einer erheblichen Veränderung der Genitalien verbunden sind und soziale/kulturelle Gründe bei der Entscheidung der Eltern für beide Verfahren eine wichtige Rolle spielen, deuten die Ergebnisse auf eine geschlechtsspezifische Voreingenommenheit in der medizinischen Ethik in Bezug auf die körperliche Unversehrtheit hin, die sich in einer Nomenklatur manifestiert, die ein negatives Werturteil gegenüber dem weiblichen Verfahren („Verstümmelung“), nicht aber gegenüber dem männlichen Verfahren („Beschneidung“) zum Ausdruck bringt. Die Ergebnisse ergänzen die sich abzeichnenden Belege für eine „männliche Empathielücke“ im öffentlichen Gesundheitswesen.
Gemeinsamkeiten bei den Eltern für eine Beschneidung bei Jungen bzw. Mädchen
Religion und Tradition/Gewohnheit sind häufig genannte Gründe sowohl für die männliche als auch die weibliche Beschneidung. Dies ist ein sehr interessanter Aspekt, da männliche Beschneidung hauptsächlich aus religiösen Gründen legalisiert wurde, während ungeachtet dessen weibliche Beschneidung ein Jahr später strafbewehrt generell verboten wurde. Religion als der am häufigsten genannte Grund für die männliche Beschneidung wurden deshalb im Irak, in Pakistan und in der Türkei genannt (∼80-90 % der Befragten), während in Australien, Kanada und den USA die Religion von etwa 10-20 % der Befragten angeführt wurde.
Weiterhin sind auch der Druck von Seiten der Familie/Eltern, Vorlieben und Wahlmöglichkeiten ebenfalls wichtige Punkte, die die Entscheidung sowohl für die männliche als auch die weibliche Beschneidung genannt wird.
Als medizinische Gründe werden Hygiene und Sauberkeit nach Angaben der Eltern ebenfalls häufig für ihre Entscheidung sowohl für die männliche Beschneidung als auch für die weibliche Genitalverstümmelung genannt.
Und schließlich gibt es einen beachtlichen Anteil der Eltern, die angaben, es „einfach getan“ zu haben oder „nicht wissen, warum“ sie sich für den Eingriff bei ihrem Kind entschieden haben.
Unterschiede bei den Eltern für eine Beschneidung bei Jungen bzw. Mädchen
Als Gründe für die männliche Beschneidung geben Eltern häufig an, „wie der Vater“, „wie die Brüder“, „wie die Gleichaltrigen“ auszusehen und „um Spott zu vermeiden“. Solche Gründe werden jedoch von Eltern, die sich für die weibliche Genitalverstümmelung entschieden haben, in der Regel nicht angeführt.
Bei Mädchen geben die Eltern dagegen häufig Heiratsaussichten, die Erhaltung der Jungfräulichkeit und eine geringere Libido/Promiskuität als Gründe für die weibliche Beschneidung an. Solche Gründe werden selten von Eltern genannt, die sich für die männliche Beschneidung entscheiden.
Bei Jungen scheinen die Eltern also mehr über das Aussehen des Penis besorgt zu sein und darüber, ob dieses Aussehen mit dem anderer Männer in der Gemeinschaft übereinstimmt, während bei Mädchen die Eltern offenbar mehr über reproduktive Aktivitäten und Prozesse wie sexuelle Promiskuität und die Erleichterung der Geburt besorgt sind.
Mit anderen Worten: Speziell Jungenbeschneidung findet aus Gründen der Zementierung des bestehenden Männerbildes statt.
Das ist genau das, was wir bei der Legalisierung von Körperverletzung an Jungen durch Beschneidung schon immer kritisiert haben, nämlich die Zementierung archaischer Männerrollenbilder. Damit haben die Politiker mit ihrer Legalisierung von Körperverletzung an Jungen durch Beschneidung genau das manifestiert, was die gleichen Politiker in ihren geschlechterpolitischen Reden immer wieder ablehnen und angeblich ändern wollen. Es ist damit ein eindrucksvoller Beleg für die mangelnde Authentizität der politisch Verantwortlichen.
Schlussfolgerung der Studie
In der Schlussfolgerung der Studie kommen die Forscher nochmals auf den Gender Empathy Gap durch die unterschiedliche Bezeichnung der Körperverletzung an Kindern durch Beschneidung zu sprechen:
Die Untersuchung der Nomenklatur ergab, dass Forscher je nach Geschlecht der beschnittenen Person eine unterschiedliche Terminologie verwenden, wenn sie sich auf die Beschneidung von Genitalien beziehen. Forscher, die über die Beschneidung männlicher Genitalien publizieren, verwenden die Begriffe „Verstümmelung“ und „Beschneidung“ etwa 1 % bzw. 99 % der Zeit. Im Gegensatz dazu verwenden Forscher das Wort „Verstümmelung“ 62 % der Zeit, wenn sie sich auf die Beschneidung weiblicher Genitalien beziehen. Da sowohl die männliche Beschneidung als auch die weibliche Genitalverstümmelung eine erhebliche Veränderung der jugendlichen Genitalien mit sich bringen und soziale und kulturelle Gründe (z. B. Religion, Tradition, Familie) bei der Entscheidung der Eltern für beide Verfahren eine wichtige Rolle spielen, deuten die Ergebnisse auf eine geschlechtsspezifische Voreingenommenheit in der medizinischen Ethik in Bezug auf die körperliche Unversehrtheit hin, die sich in einer unterschiedlichen Nomenklatur niederschlägt, die von medizinischen Forschern, Praktikern und Beamten verwendet wird, wenn sie die Verfahren diskutieren. Diese wahrscheinliche geschlechtsspezifische Voreingenommenheit, bei der die nicht freiwillige Veränderung von Genitalien als unethisch angesehen wird, wenn sie an Mädchen, nicht aber an Jungen vorgenommen wird, steht im Einklang mit der Vorstellung, dass weibliche Gewaltopfer mehr Empathie erhalten als männliche Gewaltopfer (d. h. „geschlechtsspezifische Empathielücke“). Die ungleiche Anwendung von medizinischer Ethik und Empathie auf Jungen und Männer steht auch im Einklang mit Belegen für eine Voreingenommenheit gegenüber Jungen- und Männerthemen innerhalb nationaler und internationaler Institutionen. Ausführlichere Diskussionen und Debatten über die Ethik der „männlichen Beschneidung“ und der „weiblichen Genitalverstümmelung“ finden sich an anderer Stelle.
Die Abstimmung zur Jungenbeschneidung im Deutschen Bundestag 2012
Nachfolgend das Abstimmungsergebnis für die Legalisierung von Körperverletzung an Jungen durch Beschneidung:
Sogar das für Jungen zuständige Bundesjugendministerium hat übrigens Jungen seinerzeit kläglich im Stich gelassen. Auf Anfrage von MANNdat legte man in einem ausführlichen Bericht dar, dass es dem Ministerium vorrangig wichtig ist, dass bei der Legalisierung der Körperverletzung an Jungen durch Beschneidung nicht auch die Körperverletzung an Mädchen durch Beschneidung erlaubt würde. Siehe hierzu unseren Beitrag „Bundestag, männliche Beschneidung und viele offene Fragen“, Anlage 2.
Die namentliche Abstimmung der damaligen Bundestagsabgeordneten finden Sie hier.
Übrigens sind im Bundeskabinett der Ampelkoalition fünf Politiker vertreten, die damals schon als Abgeordnete abgestimmt haben. Alle fünf stimmten für die Legalisierung von Körperverletzung an Jungen durch Beschneidung. Diese sind:
Marco Buschmann (FDP) – Bundesminister der Justiz (mittlerweile zurückgetreten)
Hubertus Heil (SPD) – Bundesminister für Arbeit und Soziales
Lisa Paus (Bündnis 90/ Die Grünen) – Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Dr. Karl Lauterbach (SPD) – Bundesminister für Gesundheit
Dr. Volker Wissing (FDP) – Bundesminister für Digitales und Verkehr (mittlerweile aus der FDP ausgetreten und zusätzlich Bundesminister der Justiz)
Zudem stimmten auch zwei weitere wichtige politische Entscheidungsträger für die Legalisierung von Körperverletzung an Jungen durch Beschneidung, nämlich
Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD) – Bundespräsident
Dr. Ursula von der Leyen (CDU) – EU-Kommissionspräsidentin
Buch zum Thema Jungenbeschneidung
Wer sich über Beschneidung sachlich informieren will, dem empfehlen wir das Buch
Melanie Klinger: „Intime Verletzungen – Weibliche und männliche Beschneidung (K)ein unzulässiger Vergleich?“
Seitenanzahl: 272
ISBN: 978-3-7497-3198-5
Erscheinungsdatum: 25.11.2019
Zum Buch von Melanie Klinger: unsere Rezension.
Quelle Beitragsbild: bluttropfen_pixelio_merlestechow
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