Täter und Opferinnen
Ein Gastbeitrag von Reinhart Stölzel für MANNdat
Eine Streitschrift zu einigen methodischen und rhetorischen Winkelzügen des gegenwärtigen öffentlichen Diskurses über Beziehungsgewalt
Neben der Missbrauchsdebatte hat die öffentliche Diskussion um Beziehungsgewalt wie kein anderes Thema der letzten Jahre zu einer hochgradigen Dynamik im Geschlechterdiskurs und gleichzeitig zu dessen Erstarrung geführt. Aktuelle statistische Korrelationen scheinen die Schablonenhaftigkeit der Debatte zu bestätigen und werden oft ohne Zögern für unumstößlich angesehen. Auf der einen Seite dienen sie der expansiven Untermauerung einer ideologisierten Anklage, während am anderen Ende der Gender-Skala eine diffuse Mischung aus Beschämung und Ratlosigkeit, stummer Empörung und Ignoranz herrscht, und angemessene Reaktionen mit der Lupe zu suchen sind. Der Dialog zwischen den Geschlechtern ist in eine Sackgasse geschlittert, die unser emanzipatorisches Erbe der letzten dreißig Jahre in Frage stellt, und deren Auswirkungen noch kaum absehbar sind. Dass Frauen und Männer mehr miteinander verbindet, als sie trennt, gerät dabei zunehmend aus dem Blick. Vor dieser keineswegs auf Deutschland beschränkten Entwicklung warnt die französische Philosophin und Historikerin Elisabeth Badinter in ihrem neuen, mittlerweile auch hierzulande erschienenen Buch, zu dessen zentralen Thesen diejenige vom „Féminisme victimiste“ gehört. Die Pariser Vorkämpferin der Gleichstellung konstatiert, dass „Viktimisierung heute zu einem politischen und ideologischen Werkzeug geworden ist“ (Badinter 2003), und unter Berufung auf diese Viktimisierung zudem neuartige, rückschrittliche Allianzen mit einer bereits überwunden geglaubten puritanischen Sexualmoral entstanden sind: „Was ich beklage ist gerade das Umschwenken der einst befreienden, lustvollen und körperfreundlichen Frauenbewegung auf einen Feminismus der Moral und der Prüderie, der den weiblichen Körper wieder sakralisiert wie zu Zeiten des Korsetts und der zahllosen Unterröcke“ (Badinter 2004b).
Wie konnte es dazu kommen? Die Liste der Einflussfaktoren ist lang; sie reicht von der einerseits erfreulich gewachsenen öffentlichen Aufmerksamkeit für Gewaltopfer, über eine Tendenz zur Desensibilisierung der Medienwelt gegenüber populistischen Botschaften, den zunehmenden Rückzug des Staates aus öffentlich-rechtlichen Steuerungsaufgaben und deren Übertragung an freie Träger, bis hin zu einer veränderten politischen Gemengelage insbesondere im politischen Milieu der rot-grünen Koalition. Es scheint, als haben sich nicht nur innerhalb dieses Milieus die Kräfteverhältnisse zugunsten der Adepten einfacher Erklärungs- und Handlungsmodelle verschoben. Auch bei der Einholung externen Sachverstands gründen sich Entscheidungsprozesse offenbar zunehmend auf Standpunkte, denen es an ideologischer Unabhängigkeit mangelt.
Parteilich-feministische Arbeitsansätze haben die Beratungszimmer der (weiblichen) Betroffenengruppen längst hinter sich gelassen und dominieren seit einigen Jahren zunehmend auch das diesbezügliche staatliche Handeln, etwa in Form bestimmter Klauseln in Koalitionsverträgen von Landesregierungen oder der öffentlichen Finanzierung parteilicher Intervention auf der Grundlage derartiger Konzepte. Als gäbe es dazu keine Alternative, wird die Republik unter Berufung auf Evaluationsergebnisse eines Berliner „Modellansatzes“ und einer „Wissenschaftlichen Begleitung“ mit Interventionsprojekten überzogen, die sich mit dem modernen Etikett einer interdisziplinären, vernetzten Arbeit schmücken, aber genau diesem eindimensionalen Ansatz folgen. Die erklärte Absicht, das Gedankengut der heute hervorragend etablierten und staatlich protegierten Lobbygruppen über die regelmäßige Schulung möglichst vieler Multiplikatorinnen kampagnenartig zu verbreiten, wird mit bemerkenswertem personellen und finanziellen Aufwand umgesetzt. Wie schmalbrüstig und verworren die behauptete Wissenschaftlichkeit daherkommt, erschließt sich erst beim zweiten Hinsehen. Es drängt sich der Gedanke auf, dass es sich hierbei eher um offensives ideologisches Backstopping zur Aufrechterhaltung einer faktisch bestehenden Diskurshoheit und zur Vorbeugung drohender Legitimationsverluste handelt. Über mittelfristige Auswirkungen auf das psychosoziale Befinden beider Geschlechter kann man nur spekulieren. Fest steht hingegen, dass sich mit hinlänglichem Engagement in dieser Sparte derzeit trefflich Karriere machen lässt. Beim Studium von Literaturlisten und Referenzen erweist sich die Gemeinde dennoch als recht überschaubar: eine Hand voll Akteurinnen aus der frauenbewegten Nach-68er Generation, die mittlerweile einflussreiche Positionen in Ministerien, Universitäten, Berufsverbänden und Medien innehaben, monopolisieren weitgehend die fachöffentliche, oft auch die öffentliche Debatte und forcieren in einem veritablen Vortrags- und Schulungstourismus die missionarische Verbreitung ihrer streitbaren Argumentationsvorlagen. Manches, was hier als eng vernetzte und fachübergreifende multiplikatorische Arbeit gepriesen wird, ordnet man in anderen politischen Zusammenhängen umstandslos der Rubrik Seilschaften zu.
Inhaltliche Entgrenzung des Gewaltbegriffs
Beziehungsgewalt wird keineswegs einheitlich definiert. Aus bekannt gewordenen Fällen weiß man, dass die Skala möglicher Brutalität nach oben offen ist. Viel definitionssensibler ist jedoch die Schwelle der graduellen Abgrenzung nach unten, hinein in die Grauzone der weniger eindeutigen Phänomene, die sehr viel mehr mit Abhängigkeiten und Demütigungen als mit manifesten Übergriffen zu tun haben. Das nicht nachlassende Bemühen von interessierter Seite, diese Schwelle möglichst niedrig anzusetzen, lässt sich in zahllosen konzeptionellen Texten belegen und fördert gleichzeitig gravierende innere Widersprüche zu Tage. Wenn häusliche Gewalt nicht erst bei körperlicher Gewalt beginnt, sondern auch Formen psychischer, sozialer und emotionaler Gewalt oder auch die Androhung physischer Gewalt einschließt, so wird damit der Begriff qualitativ sehr diffus und Gewaltphänomene noch schwerer quantifizierbar als dies ohnehin bereits der Fall ist. Mit dieser Vermengung verschwimmt der postulierte Unterschied zwischen der eher männlichen Variante von Gewaltausübung (dem körperlichen Übergriff) und den auch von Frauen häufig ausgeübten Formen wie Herabwürdigungen, Drohungen oder auch indirekte physische Gewalt (etwa das viel zitierte Werfen des Aschenbechers), und die Häufigkeit der Täterschaft zwischen den Geschlechtern gleicht sich stark an. Nicht umsonst fallen diese nichtkörperlichen und leichten Formen von Gewalt bei vielen Autoren eher in die Kategorie der „common domestic violence“, die von Männern wie Frauen in vergleichbarem Umfang ausgeübt werden. Die in zahlreichen Broschüren und Dokumenten anzutreffende Aussage, häusliche Gewalt werde „fast ausschließlich von Männern gegen Frauen ausgeübt“ (hier: BIG e.V. Berlin, Homepage www.big-interventionszentrale.de) ist unhaltbar, insofern von „häuslicher Gewalt“ gesprochen, eigentlich aber nur körperliche häusliche Gewalt gemeint wird.
Eindimensionale Geschlechterzuordnung und Verdachtsgeneralisierung
Betrachtet man die kursierenden Definitionen für häusliche Gewalt unter dem Aspekt der Geschlechterzuordnung, so reichen sie von geschlechtsneutralen Formulierungen bis hin zur Vereinnahmung des Begriffs als Surrogat für Gewalt gegen Frauen. Folgerichtig werden häufig von vornherein nur Frauen (und Kinder) als betroffene und schützenswerte Zielgruppe angesprochen, was der überraschte Leser mitunter eher zufällig entdeckt, nachdem er bereits mehrere Seiten gelesen hat. Auch die häufig anzutreffende Vorgehensweise, ein Phänomen X zu benennen, anschließend zu erklären, die Gruppe Y sei überwiegend betroffen, und fortan ausschließlich über die Gruppe Y zu sprechen, ohne diese Einschränkung als solche kenntlich zu machen und zu begründen, hält wissenschaftlichen Kriterien nicht stand.
Gewissheit über die polarisierende Stoßrichtung einschlägiger Konzepte gewinnt man spätestens, wenn man auf Formulierungen wie „die gewalttätigen Männer“ oder das inflationär benutzte Wortungetüm „Männergewalt“ stößt, das ebenso denunziatorisch ist, wie es der regelrecht hypothetisch anmutende, weil nirgendwo benutzte Begriff Frauengewalt wäre. In seiner Oberflächlichkeit und Undifferenziertheit besagt dieses Schlagwort nicht etwa, dass einzelne Männer gewalttätig werden, sondern impliziert vielmehr, ausgeübte Gewalt sei schlechthin Männersache und folglich für betroffene (und nicht betroffene) Frauen nur aus der Opferperspektive ein Thema. Elisabeth Badinter konstatiert hier eine „gravierende Begriffsverwirrung, die den pathologischen Fall von männlicher Gewalttätigkeit zum Normalfall erklärt und der Gewalt überhaupt ein bestimmtes Geschlecht zuweist: das männliche. […]. Feminismus gerät so zur puren Ideologie“ (Badinter 2004b). Selbst wenn sich der derzeitige Erkenntnisstand erhärten sollte, wonach häusliche Gewalt durch Frauen deutlich seltener ausgeübt wird, ist sie in ihrem Ausmaß bereits heute weit davon entfernt, vernachlässigbar zu sein. So trug etwa in Berlin die Konstellation „Täter weiblich, Opfer männlich“ im Jahr 2002 mit 12,7% zum Gesamtaufkommen von 5.776 registrierten Fällen bei (Berliner Senatsverwaltung für Inneres 2003). Dies entsprach gegenüber 2001 einem Anstieg um 6,0% – einer klaren Verdoppelung. Selbst wenn diese Zahl aufgrund steigender Anzeigebereitschaft nicht signifikant ist, und man insgesamt weiter von einer hohen Dunkelziffer ausgeht, beziffert sie dennoch eine Größenordnung, die sich nicht ohne weiteres vernachlässigen lässt. Rätselhaft bleibt, warum die Pressestelle der Berliner Senatsinnenverwaltung für das Jahr 2003 nur noch die Gesamtzahl von 10.371 Fällen häuslicher Gewalt publiziert und auf die Unterscheidung des Geschlechts von Tätern und Opfern verzichtet. Dies ist umso erstaunlicher, als man auch in der Politik nicht müde wird, die Wichtigkeit dieser Unterscheidung bei jeder Gelegenheit zu unterstreichen.
Neben anderen Differenzierungen ist es gewiss legitim, geschlechtsspezifische Charakteristika (bis hin zur Verteilung von Gewalttäterschaft zwischen den Geschlechtern) zu untersuchen, festgestellte Korrelationen zu benennen und bestimmte Thesen herauszufiltern. Nur ist das Sorgfaltsgebot im Umgang mit der Selbstachtung Anderer, auf das gerade der feministische Diskurs explizit Anspruch erhebt, ebenso unteilbar wie das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit und ein von Gewalt unbeeinträchtigtes Leben. Niemandem steht es zu, dieses Recht auf Selbstachtung durch unzulässig verallgemeinernde Wortwahl zu missachten. Genau dieses Recht (hier: der mehrheitlich nicht gewalttätigen Männer) wird durch den gegenwärtig dominierenden Diskurs verletzt.
Die Nichtunterscheidung zwischen statistisch wahrscheinlicher und tatsächlicher individueller Täterschaft scheint daher keine versehentliche Unterlassung zu sein. Sie verkörpert vielmehr die eigentliche Substanz der Verdachtsgeneralisierung, die ihren Niederschlag in den entsprechenden Sprachformeln findet (Männer, Ehemänner, Partner, Täter, Gewalttäter einerseits, Frauen, Kinder und Zeuginnen andererseits, sowie BeamtInnen, Ärzte/Ärztinnen, VertreterInnen, GerichtsvollzieherInnen, Anwälte/Anwältinnen) und ein interessantes Betätigungsfeld für Linguisten bildet. Das legitime Anliegen des großen „Binnen-I“, nämlich die Präsenz von Frauen gerade auch dann grammatisch sichtbar zu machen, wenn sie in der Minderzahl sind, scheint in den einschlägigen Konzepten, Ratgebern und Handreichungen eher störend zu wirken und wird hartnäckig ignoriert. Formulierungen wie etwa die erklärte Absicht des Berliner BIG e.V., „die Ächtung männlicher Gewalt voranzutreiben“ sprechen für sich selbst: ein Blick ins etymologische Wörterbuch unter dem Stichwort „Ächtung“ genügt, um die dem Begriff ursprünglich inhärente Bedeutung legitimer Selbstjustiz zu bestätigen.
Fehlende Unterstützung durch Männer?
Tun sich Männer in der Konfrontation mit den von anderen Männern verübten Gewalttaten schwer, so ist schnell von leichtfertiger oder vorsätzlicher Bagatellisierung, oder auch von männerbündlerischer Realitätsverleugnung die Rede. Nun gehörte die Anerkennung von Interdependenzen noch nie zu den starken Seiten des Feminismus, geschweige denn seiner ideologisierten Varianten. Dennoch verdeckt der feministische Reflex, inhaltlichem oder methodischem Einspruch eine vorsätzliche Diskreditierung der kritisierten Positionen zu unterstellen, einen entscheidenden psychosozialen Aspekt: im Rampenlicht der gegenwärtig publizierten Zahlen, insbesondere aber infolge der einseitigen Zuspitzung der Debatte, sind (auch nicht selbst betroffene) Frauen in der komfortablen Situation, die Auseinandersetzung in der Regel externalisieren zu können: der anklagende Finger darf in Richtung des anderen, nicht des eigenen Geschlechts zeigen. Ohne dass Frauen ihr eigenes geschlechtliches Selbstverständnis in Frage stellen müssten, werden ihnen Identifikationsangebote auf den oberen Rängen der Opferhierarchie geradezu auf dem Silbertablett serviert ? eine aus männlicher Sicht beneidenswerte, und zugleich abstoßende Einladung zu einer entlastenden Selbstvergewisserung, die keinerlei Forderungen stellt – und deshalb psychologisch so überaus attraktiv ist. Wer nähme sie nicht gerne an? Es lohnt sich mitunter dort genauer hinzusehen, wo strebsame profeministische Eleven ihre Meisterinnen noch zu „toppen“ suchen.
Je stärker die soziale Intervention auf diese polarisierten Identifikationsangebote ausgerichtet und unter der Fahne des Gender Mainstreaming als Querschnittsaufgabe institutionalisiert wird, umso deutlicher dürfte das gesellschaftspolitisch destruktive Potenzial dieser Polarisierung entlang der Geschlechtergrenzen spürbar werden.
Mythos der Schichtunabhängigkeit
Entgegen der Behauptung, das Phänomen der häuslichen Gewalt betreffe sämtliche soziale Schichten, lässt sich kaum eine Publikation finden, die diesen Nachweis explizit antritt oder über die Verteilung von Gewalt in verschiedenen sozialen Schichten differenzierte Angaben macht. Exemplarische Fälle, von denen mitunter berichtet wird, verstärken vielmehr den Eindruck, dass häusliche Gewalt überwiegend in sozial schwachen Bevölkerungsschichten (oft gemeinsam mit Armut, Arbeitslosigkeit und Alkoholismus) und in bestimmten Migrantenfamilien auftritt. Diese Erkenntnis ist beinahe so alt wie die Sozialwissenschaften selbst. Sie fristet heute jedoch ein Schattendasein – ließ sich doch auf diesem Wege den bürgerlichen Mittel- und Oberschichten ihre Unverdächtigkeit streitig machen, die letztere unter Verweis auf das alte Sprichwort „Pack schlägt sich, Pack verträgt sich!“ für sich reklamierten. Wenn heutzutage diese deutliche Korrelation erneut geleugnet wird, so scheint dies aus anderen Gründen zu geschehen: die gegenwärtig starke feministische Beeinflussung des öffentlichen Diskurses, wonach Gewalt männlich, also geschlechtlich determiniert ist, lässt sich schwerer als solche erkennen. Anders formuliert: wer einräumt, dass die Grenze des Phänomens Beziehungsgewalt in weit stärkerem Maße als dies derzeit geschieht, entlang der seit Jahrzehnten von der Sozialforschung identifizierten sozialen Verwerfungslinien verläuft, müsste die These von der geschlechtlichen Determiniertheit aufgeben. Stattdessen wird mit der undifferenzierten Behauptung, häusliche Gewalt existiere in allen Bevölkerungsschichten, selbige zum flächendeckenden Phänomen erklärt, das eher die Regel als die Ausnahme darstellt.
Ausblendung der komplexen Dynamik und wechselseitigen Bedingtheit von Gewaltursachen
Auch wenn es für Frauen oft schwierig scheint, sich aus Gewaltbeziehungen zu lösen, und diese Schwierigkeit zudem je nach sozialem Hintergrund und daraus resultierenden materiellen Abhängigkeitsverhältnissen stark schwankt: am Zustandekommen und evtl. Fortbestand der Gewaltbeziehung sind sie als erwachsene Menschen ebenso beteiligt wie ihre Partner. Niemand scheint aber von ihnen zu verlangen, sich im Anschluss an Gewalterfahrungen mit ihrem Anteil an Verantwortung daran auseinanderzusetzen, geschweige denn (wie verurteilte Männer, die gewalttätig waren) soziale Trainingskurse zu besuchen, um diesen Anteil für sich erfahrbar und somit künftig vermeidbar zu machen. Die Unterstützungsangebote für von Gewalt betroffene Frauen beruhen auf deren ausschließlicher Wahrnehmung als Opfer der Gewaltbeziehung, während die Interventionskonzepte für Gewalt ausübende männliche Beziehungspartner ausschließlich repressive, also sanktionierende Antworten vorsehen („Inverantwortungnahme“). Wenn die frühere Klassifizierung gewalttätiger Auseinandersetzungen im häuslichen Bereich als „Familienstreitigkeit“ eine Verharmlosung des Gewaltaspekts der Streitigkeit darstellte und sich auf die Feststellung beschränkte, dass zwei Beziehungspartner Probleme miteinander haben, zu deren gewaltfreier Lösung sie unfähig sind, so tritt gerade letzterer Aspekt in den heutigen Interventionsansätzen völlig in den Hintergrund. Die komplexen psychischen, sozialen oder anderen Faktoren in der Biografie der Beteiligten, welche zu dem hilflosen einzelnen Versuch einer gewalttätigen Lösung führen, und die nach wie vor in beträchtlichem Umfang in verschiedensten sozialen Kontexten von Männern wie Frauen in die nächste Generation hinein reproduziert werden, lassen sich mit dem Verweis auf die Notwendigkeit schneller und unbürokratischer Hilfe für Betroffene nicht ohne weiteres konzeptionell „überspringen“.
Manipulativer Umgang mit Zahlen
Die ehemalige Bundesfamilienministerin Bergmann wird in zahlreichen Publikationen und Pressemeldungen mit ihrer Äußerung im Bundestag vom 08. März 2001 zitiert, wonach „schätzungsweise jede dritte deutsche Frau im Laufe ihres Lebens Opfer von Beziehungsgewalt wird“. In einem Werbespot in der Berliner U-Bahn behauptet BIG im Januar 2004, jede fünfte Frau sei von Beziehungsgewalt betroffen. Ignacio Ramonet, Chefredakteur der auch auf Deutsch erscheinenden, angesehenen Monatszeitung „Le Monde Diplomatique“ lässt sich in seinem Leitartikel der Juli-Ausgabe 2004 gar zu folgender Aussage hinreißen: „Schauplatz Europa: Je nach Land gelten ein Viertel bis die Hälfte aller Frauen als Opfer von Misshandlungen.“
Hier wird – um nur die jüngsten Beispiele zu nennen – unter Berufung auf methodisch fragwürdige Studien oder Schätzungen ein maßlos überhöhtes Bild des Phänomens gezeichnet und öffentlichkeitswirksam inszeniert. Vage Dunkelziffern treten an die Stelle der rechtstatsächlichen Größenordnung, gaukeln der Öffentlichkeit den Eindruck sachlicher Information vor und verraten auch, „dass hier vorauseilendes Engagement noch auf der Suche nach seinem Anlass ist“ (vgl. Rutschky 1999, S. 34 und S. 103 ff.).
Frauenhausmitarbeiterinnen berichten, dass „einige Frauen fünf- bis sechsmal kommen, bevor sie die Trennung schaffen“ (taz, 24.08.2004). Niemand scheint sich indessen zu fragen, wieviele davon zu jenem Drehtüreffekt beitragen, der stets verschwiegen wird, wenn von den so oft zitierten deutschlandweit „jährlich 45.000“ die Rede ist.
Political correctness versus Populismus?
Die statistische Häufung bestimmter Phänomene birgt stets das Risiko, damit unliebsame Stereotype zu benennen, über die sich viele Menschen schon immer mal Luft machen wollten, und die oft genug als Rechtfertigung für Ausgrenzung und Rassismus herhalten mussten (etwa dass Ostdeutsche fremdenfeindlich sind, weil sie Asylantenheime anzünden, dass Polen kriminell sind, weil sie deutsche Autos stehlen, dass Türken nicht in unsere Gesellschaft passen, weil sie ihre Frauen einsperren, usw.). Beim Versuch der Eindämmung von Fremdenfeindlichkeit oder im Zusammenhang mit dem Diskriminierungsschutz von Minderheiten (und seien sie noch so klein) wurde daher selbst bei klaren statistischen Korrelationen immer wieder mit Bedacht vor Pauschalisierungen gewarnt. Von solcher Zurückhaltung eher unbeeindruckt zeigt sich der Generalverdacht gegenüber Männern als Täter häuslicher Gewalt. Besonders pikant wird es, wenn sich dessen Verfechterinnen in statistisch überproportionaler Häufigkeit aus gleichgeschlechtlich orientierten Kreisen rekrutieren, die sich ihrerseits, und legitimer Weise, gegen ihre eigene Diskriminierung zur Wehr setzen. Es wird deutlich, wie labil der Begriff der politischen Korrektheit ist ? falls er sich überhaupt je auf mehr als Halbherzigkeiten oder willkürliche Polarisierungen bezogen hat.
Parteilichkeit als Kinderkrankheit?
Aus zivilisationskritischer Sicht ist es zweifellos eine niederschmetternde Feststellung, dass in unserer hochgradig differenzierten Gesellschaft mit ihren nie zuvor gekannten Möglichkeiten individueller Lebensgestaltung die Frage der Gewalt in Beziehungen an der Schwelle zum 21. Jahrhundert überhaupt ein Thema ist. Gerade das vergangene 20. Jahrhundert sollte uns jedoch auch gelehrt haben, dass eine forcierte Institutionalisierung parteilicher Interessenpolitik, die sich auf selektive Teilwahrheiten beruft, weder zu mehr Gerechtigkeit, noch zu weniger Gewalt geführt hat. Der Hinweis, jede soziale Bewegung sei zunächst einäugig, weshalb auch der Frauenbewegung vorgeworfen werden könne, sie habe zeitweilig nur die Gewalt wahrgenommen, bei der Frauen Opfer sind, bemüht nicht nur ungerechtfertigter Weise die grammatische Vergangenheitsform; sie erinnert vor allem fatal an andere inhaltliche und historische Kontexte. Zu nennen wäre hier etwa die Wahrnehmung der DDR-Lebensrealitäten durch die westdeutsche Linke (eine vergleichsweise folgenarme Verirrung) oder Lenins Kampfschrift über den „linken Radikalismus als Kinderkrankheit im Kommunismus“ aus dem Jahr 1920 (dass die darauf folgenden Jahre und Jahrzehnte sowjetrussischer Geschichte das Land zivilisatorisch vorangebracht oder ihm ein friedliches Zusammenleben beschert hätten, wird niemand ernsthaft behaupten wollen).
Nach Jahrzehnten gegenseitiger ideologischer Verteufelung waren die neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts im Kielwasser der Implosion des Ost-West-Konflikts von einer ermutigenden Fähigkeit zum Abbau von Feindbildern geprägt. Die im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends besonders von neokonservativen Kreisen betriebene Schürung neuer internationaler Freund/Feind-Schemen (zivilisierte westliche Welt/arabischer Terrorismus, Christentum/Islam, Demokratien/Schurkenstaaten, etc.) wird nicht zuletzt in friedens- und frauenbewegten politischen Kreisen als beunruhigende Tendenz empfunden. Dass sich nun parallel dazu mitten in Europa im Namen des „Kampfs um Geschlechtergerechtigkeit“ ein innenpolitischer Diskurs zu verfestigen scheint, der eine ideologische Polarisierung in gewalttätige Männer und hilfebedürftige Frauen institutionalisiert, wirkt alles andere als zukunftsweisend. Denn was zu den Binsenweisheiten jeder Mediation in Paarkonflikten gehört, gilt auch im gesellschaftlichen Maßstab: Männer wie Frauen tun gut daran, sich über ihre „psychische Doppelgeschlechtlichkeit“ (Badinter, 2004b) zu verständigen, und alles zu unterlassen, was das Selbstwertgefühl des jeweils anderen Geschlechts willkürlich herabwürdigt ? sei es durch Aberkennung der Fähigkeit zur selbständigen Interessenwahrung oder durch Zuweisung des Charakteristikums der Gewalttäterschaft. Ein von diesem Gedanken geleitetes Kriterium der Diskriminierungsfreiheit gehört dringend in jede Evaluierung von Interventionsansätzen, die diesen Namen verdient.
Elisabeth Badinter warnt in ihrem jüngsten Buch eindringlich vor einer Dekonstruktion von Männlichkeit, die sich auf einen sexuellen Relativismus, eine moralische Hierarchie der Geschlechter stützt, denn „das ist die Falle, in die wir nicht treten dürfen, wenn wir nicht unsere Freiheit verlieren, den Kampf um Gleichheit aufgeben und die Trennung erneuern wollen. Dieser Versuchung scheint der herrschende Diskurs nachzugeben. Entgegen all seinen Hoffnungen ist es unwahrscheinlich, dass er die Situation der Frauen verbessern wird. Es ist sogar zu befürchten, dass sich ihre Beziehungen zu den Männern verschlechtern werden. Genau das nennt man „feministische Irrtümer““(Badinter 2004a, S. 162).
Literaturliste:
Badinter, E.: Die Wiederentdeckung der Gleichheit, Berlin 2004
Badinter, E.: Interview in: Die Weltwoche, Ausgabe 13/04, Zürich 2004
Badinter, E.: Interview in: L?Arche, N° 549-550, Paris 2003
Berliner Senatsverwaltung für Inneres: Bericht über die Kriminalität in Berlin 2002
BIG e.V.: Ihr Recht bei häuslicher Gewalt, 3. aktualisierte Ausgabe Berlin 2002
Homepages http://www.big-hotline.de/, http://www.big-interventionszentrale.de/
Rutschky, K.: Emma und ihre Schwestern, München Wien 1999
Schwab, W.: Ich will mich nicht länger schämen, in: taz vom 24.08.2004
Bildquelle: (c) S. Hofschläger/www.pixelio.de
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