Ist häusliche Gewalt männlich?

von Helmut Wilde (Gastbeiträge)

Ein Gastbeitrag von Helmut Wilde für MANNdat
MANNdat stellt hier einen ausführlichen Artikel des Gastautors Helmut Wilde zum Thema häusliche Gewalt vor. Der Beitrag als PDF

Zusammenfassung

Die Ausübung von Gewalt wird als Phänomen des Geschlechtes eines Menschen angesehen. Grundlegend ist dabei die Annahme, dass »Männer Täter und Frauen Opfer« seien. Diese Annahme ist zu einem zentralen Bestandteil fachlicher und nichtfachlicher Überzeugungssysteme geworden.

Die Zuordnung von Gewalt und Geschlecht erfolgt auf der Grundlage der Interpretation von Hellfeldzahlen und durch die Annahme der patriarchalischen Grundordnung westlicher Gesellschaften. Die Art und Weise der Interpretation und Schlussfolgerungen, die auf der Basis von Hellfeldzahlen getroffen werden, wurden in 7 Thesen diskutiert und relativiert. Dieser Diskussion zufolge ist häusliche Gewalt nicht automatisch dem Geschlechtsrollenstereotyp zuzuordnen, in der Männer Täter und Frauen Opfer wären. Hier sind alle denkbaren Täter-Opfer-Konstellationen möglich, die existent sind, wie auf der Basis von Dunkelfeldstudien für die Bundesrepublik Deutschland gezeigt werden konnte. Werden die hier diskutierten Einschränkungen bezüglich der Interpretation und Aussagekraft von Hellfeldzahlen aufgenommen und die einseitige Favorisierung zugrunde liegender Theorie (These 7) überwunden, so öffnet sich der Blick auf Gewalt, speziell was die Verursachung angeht, für eine Vielzahl möglicher Erklärungsansätze und damit auch möglicher Gewaltakteure und somit für neue Formen der Intervention im Rahmen von Prävention, Beratung und Therapie.

1. Einleitung

Gewalt im häuslichen Bereich ist in der Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit vertreten und als soziales Problem anerkannt. Dabei wird zunehmend das Geschlecht als zentrale Variable der Gewaltausübung bestimmt. Männliche Gewaltausübung auf der einen und weibliche Widerfahrnis derselben auf der anderen Seite, werden zu einem zentralen Bestandteil fachlicher und nichtfachlicher Überzeugungssysteme, die Gewaltakteure selektiv ver orten und sowohl das öffentliche Vorgehen bei Verwaltung, Polizei und Justiz und auch die Ausrichtung in Beratung und Therapie bestimmen können. Wie diese für selbstverständlich gehaltene Zuordnung von Gewalt und Geschlecht zustande kommt und überwunden werden kann, wird der Autor im Sinne einer notwendigen differentiellen Betrachtungsweise diesem Phänomen gegenüber aufzeigen.

In den Sozialwissenschaften verwendet man für Gewalt den Begriff der Aggression. Jedoch möchte ich vorausschicken, dass ein einheitlicher Gewaltbegriff nicht existiert.

Definitionen lassen sich danach unterscheiden, ob sie weit oder eng gefasst sind. Die engen Definitionen beinhalten i.d. Regel nur die physische Gewalt zwischen Partnern. Diese Definitionen sind insbesondere in der Rechtssprechung üblich. Di e sehr weit gefassten Definitionen wirken inflationär, denn hier kann quasi jedes Verhalten als Gewalt bestimmt werden. Die weiten Definitionen, und diese sind m.E. die angemessen Definitionen, beinhalten sowohl physische als auch psychische Gewalt.

Bezüglich der Bedeutsamkeit von Gewaltdefinitionen auf den zu ermittelnden Gegenstand, verweise ich auf die Publikation von Badinter (2004).

Lamnek & Ottermann (2004) bieten als “Ausweg“ zu den bisher verwendeten Definitionen eine wertneutrale Definition an: “Gewalt als Handeln meint die Beeinflussung des Verhaltens anderer (Familien, Gesellschaftsmitglieder etc.) mittels (der Androhung oder Anwendung von) physischem oder psychischem Zwang“.

2. Häusliche Gewalt im Hellfeld

Die These nach der »Männer Täter und Frauen Opfer«seien liegen Hellfeldzahlen zugrunde. Die theoretische Grundlage zur ausschließlich männlichen Verursachung von Gewalt, liefert die patriarchalische Grundordnung westlicher Gesellschaften (kurz: Patriarchatsthese genannt).

Wie sich eine solche scheinbare Bestimmtheit auf die Realität eines Menschen auswirken kann, will ich an zwei Beispielen deutlich machen. Im ersten Beispiel handelt es sich um einen Mann mit Kindern, der sich im Okt. 2004 an mich wandte. Er berichtete, dass die Kindesmutter nicht nur ihn, sondern auch die Kinder im Jahr 2003 fast täglich geschlagen, ihnen die Arme gedreht habe und die Kinder vernachlässige. Vor ca. einem Jahr hätte er wegen dieser Handlungen die Kinder ins Krankenhaus gebracht, dann habe die Kindesmutter ein paar Tage später plötzlich das Sorgerecht für die Kinder beantragt. Sie gebe dabei an, dass nicht sie, sondern der Ehemann die Kinder geschlagen hätte und zudem wolle der Ehemann die Kinder auch entführen. Die Kinder seien nun im Kinderheim untergebracht. Er könne seine 3 Kinder nur alle 14 Tage für 2 Std. im betreuten Umgang besuchen. Dieser würde willkürlich auch noch erschwert. Letztes Mal habe er sie erst nach einem Monat sehen dürfen. In einem Gutachten würde eher dem Ehemann als der Kindesmutter zugestanden, für die Kinder sorgen zu können. Darin würde auch darauf Bezug genommen, dass die Kindesmutter den Ehemann geschlagen hätte und er versucht habe, sich zu wehren. In seinen weiteren Ausführungen, sieht es ganz so aus, dass die Gewaltvorwürfe, die nun von der Frau gegen ihren Ehemann erhoben werden, durch ihn nicht mehr entkräftet werden können, und die sozialen und justitiablen Hilfssysteme ihm keinen Glauben schenken werden.

Im zweiten Beispiel geht es um eine Art Hilferuf eines Mannes, der sich ebenfalls im Herbst 2004 an mich wandte. Seine Frau trete als Nebenklägerin auf, um ihn wegen Körperverletzung durch das Gericht verurteilen zu lassen. Vorausgegangen wäre ein Streit mit Rangeleien und Handgreiflichkeiten seitens seiner Frau. Er wehrte sich, hierdurch habe sie blaue Flecken an den Handgelenken und Oberarmen davongetragen. Der Polizei erzählte sie,er hätte sie geschlagen. Sie jammere und weine bei den Aussagen immer hilflos. Seiner Frau werde geglaubt, ihm nicht!

Auch im zweiten Beispiel wird die Gewaltausübung der Partnerin nunmehr zu einem Gewaltvorwurf gegen den Mann stilisiert. Die These nach der »Männer Täter und Frauen Opfer« seien, macht es Männern offenbar schwer, als Opfer von Gewalt wahrgenommen bzw. anerkannt zu werden.

Anhand einer aktuellen Studie von Steiner (2004) möchte ich aufzeigen, welche unangemessenen Schlussfolgerungen aus Hellfeldzahlen gezogen werden.

These 1: Männlichkeit als Erklärungskonstrukt für häusliche Gewalt

Die im folgenden genannten Hellfeldzahlen, die für die Stadt Zürich gelten, sind Bestandteil der abgeschlossenen Promotion von Steiner. Im Zeitraum zwischen 1999 und 2001 wurden insgesamt 907 Fälle von häuslicher Gewalt bei der Züricher Polizei ermittelt. Gleichzeitig wurden 711 Täter (das macht 78,4%) gezählt. Die Auswertung zeigte, dass lediglich 8,3 Prozent der Fälle auf eine weibliche Täterschaft entfielen (75 Täterinnen). Innerfamiliäre Konflikte, so die Autorin, die unter Beizug der Polizei gelöst oder entschärft werden müssen, seien deshalb tatsächlich Männersache (vgl. dazu auch die Ausführungen von Popp 2003, Wilde 2002a und Wilde 2002b).

Wann immer Hellfeldzahlen in Prozentwerten öffentlich bekannt gegeben werden, sind diese auch auf die Gesamtzahl der in häuslicher Gemeinschaft lebenden Paare zu beziehen. Solche wie im obigen Beispiel aufgezeigt, unpräzise in die öffentliche Diskussion eingebrachten Zahlen verleiten dazu, eine unangemessene Vorstellung über die Gewalttätigkeit von Mann und Frau zu erzeugen.

These 2: Häusliche Gewalt als ein Merkmal von Ausländern

In der Studie von Steiner wurde weiterhin ein auffallend hoher Anteil männlicher Ausländer unter den Tätern festgestellt. Von 711 Tätern waren 462 (das sind 65 Prozent) ausländische Staatsangehörige. Diese Quote erachtet die Autorin als beunruhigend hoch. Die Autorin macht hierzu folgende Ausführungen: …. , dass es zu einfach wäre, von einem reinen Ausländerproblem zu sprechen. Die ausländische Staatsangehörigkeit bilde, wie finanzielle Probleme oder beengte Wohnverhältnisse jedoch einen Stressfaktor, der häusliche Gewalt begünstigen könne. Das Vorliegen mehrerer solcher Stressfaktoren dürfte eher in den unteren sozialen Schichten vorkommen. Die höhere Rate der Fälle von häuslicher Gewalt mit ausländischer Beteiligung müsste demnach eher als »Schichtproblem« denn als Ausländerproblem bezeichnet werden.

Ich frage mich an dieser Stelle, warum die Autorin hier eine Interpretation für die ermittelten Zahlen anbietet, dies aber bezogen auf These 1 unterlässt.

These 3: Häusliche Gewalt als Phänomen mangelnder sprachlicher Unterscheidung

Über die Häufigkeit einer ermittelten Verteilung im Hellfeld zu sprechen, hier traten in der Studie von Steiner mehr Männer in Erscheinung, und andererseits den Schluss zu ziehen, dass häusliche Gewalt »Männersache« oder männlich sei, ist nicht zulässig.

Graumann, der sich mit Sprache und deren Wirkung auf Menschen befasst, zeigt in seinen Ausführungen zu dem Problem der Eigenschaften in de r Persönlichkeitsforschung, dass die Verwendung von Eigenschaftswörtern (neben Verben und Substantiven) etwas über die zeitliche Dauer von Merkmalen, die Personen zugeschrieben werden, aussagt. Verben haben die geringste und Substantive die größte Wirkung hinsichtlich ihr er Zutreffenswahrscheinlichkeit und zeitlichen Erstreckung einer Merkmalsausprägung für Personen. Die Eigenschaftswörter liegen in ihrem Grad der Zutreffenswahrscheinlichkeit und zeitlichen Erstreckung einer Merkmalsausprägung zwischen den o.g. beiden Wortgruppen. Eine Stigmatisierung und Diskriminierung von Männern findet deshalb statt, da bei häuslicher Gewalt diese als männlich angesehen wird (vgl. Graumann 1960).

In den letzten Jahrzehnten ist es nahezu selbstverständlich geworden in der Sprach- und Schriftform das Geschlecht eines Menschen zu unterscheiden. Diese ist aufgrund einer scheinbaren Gewissheit, nach der Männer Täter und Frauen Opfer seien innerhalb der häuslichen Gewalt nicht der Fall. Um vorschnellen Verurteilungen vorzubeugen, ist diese Unterscheidungsgewohnheit auch hier einzufordern.

These 4: Ermittlung der Häufigkeit von Gewalt als wissenschaftliche Aufgabe

Für die Bundesrepublik Deutschland (und Europa) stehen im Vergleich zu Nordamerika wesentlich weniger Studien zur Verfügung, die sich mit männlichen Opfern von häuslicher Gewalt beschäftigt haben. Hier ist es in naher Zukunft Aufgabe der Wissenschaft, diese Lücken zu schließen.

Folgende innerfamiliäre Gewaltformen sollten in der Bundesrepublik Deutschland und Europa Gegenstand wissenschaftlicher Forschungen (Studien) werden:

  • Gewalt von Frauen gegen Kinder, Männer, Frauen und Senioren.
  • Gewalt von Kindern gegen Kinder und gegen ihre Eltern.

Eine Lösung des Gewaltproblems im häuslichen Bereich sehe ich nur dann als Möglichkeit gegeben, wenn alle Gewaltformen berücksichtigt und betrachtet werden und darauf aufbauend entsprechende Präventions- und Interventionskonzepte entwickelt werden.

These 5: Selektivität als Bestimmungsmerkmal der er mittelten Häufigkeiten bei häuslicher Gewalt

Eine weitere Einschränkung der Aussagekraft von Hellfeldzahlen ergibt sich durch eine Analyse, die Mansel (2003) in seinem Artikel: Die »Selektivitätstrafrechtlicher Sozialkontrolle«, vorgelegt hat. Auf der Basis von unterschiedlichen Datenquellen analysierte er u.a. Hellfelddaten. Dabei handelte es sich um die vorliegenden Individualdaten der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) und der Strafverfolgungsstatistik (jeweils Daten von 1999) von 13 Bundesländern, sowie Daten aus Opferbefragungen. So analysierte er anhand dieser Daten, »inwiefern sich für weibliche Tatverdächtige die Wahrscheinlichkeit, später auch durch ein Gericht sanktioniert zu werden, von der bei männlichen Tatverdächtigen unterscheidet«. Er konnte zeigen, dass Opfer, wenn Sie vermuten oder wissen, dass der Täter ein Mann war, seltener auf die Erstattung einer Anzeige verzichten als gegenüber weiblichen Tätern. Männern bereitet es Probleme, sich als Opfer von Frauen zu begreifen.

Vor diesem Hintergrund interpretieren sie die gegen sie gerichteten Aktionen der Frauen seltener als Straftaten. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mann bei Behandlungsbedürftigkeit des Opfers angezeigt wird, ist gegenüber einer Frau, um das fünffache erhöht, d.h. männliche Täter werden fünf mal häufiger von den betroffenen Opfern angezeigt, als Täterinnen. Frauen haben innerhalb des bundesdeutschen Strafrechtssystems deutlich geringere Chancen inhaftiert zu werden.

Aus der Analyse dieser Datenquellen zieht Mansel folgendes Fazit: »Die Unterschiede in den Anteilen von männlichen und weiblichen Tätern in den offiziellen Statistiken auf der einen und in der Opferbefragung auf der anderen Seite, zeigen an, das beide Statistiken kaum eine verlässliche Grundlage bilden, um über den Verbreitungsgrad von Straftaten und deren Verteilung auf männliche und weibliche Täter Aussagen zu machen«.

These 6: Häusliche Gewalt im Spannungsfeld von dichotomer und interaktionistischer Betrachtungsweise

Dichotome Aussagen sind Bestandteil der deskriptiven Statistik. Sie beschreiben zwei unabhängig voneinander bestehende Kategorien, die nicht aufeinander bezogen sind. Eine Kategorie im Kontext von häuslicher Gewalt wäre das Geschlecht eines Menschen. Hier ist nur schwer bzw. nicht vorstellbar, dass Mann und Frau, vor allem dann, wenn sie in einer engen sozialen Beziehung leben, nicht aufeinander bezogen sein sollten. Diese Sichtweise gilt es zu verlassen und die Vereinfachung real existierender Sachverhalte, also die »dichotomische« Betrachtungsweise, durch eine interaktionistische Sichtweise, d.h. wechselseitig aufeinander bezogenes Verhalten von Mann und Frau, zu ersetzen.

In einem Vortrag hat Lupri (2004) vor den Teilnehmern des runden Tisches zur häuslichen Gewalt in Calgary begründet, warum eine interaktionistische Betrachtung den Akteuren von Gewalt gegenüber angemessener sei: »Intimate relationships are dynamic and reciprocal, inherently ambivalent, often conflicted and contradictory. If they are abusive, certain behaviours or responses in one partner provoke a violent reaction in the other. Thus violence is a relationship issue, not a male issue. To presume that intimate violence is a one-way street or unidirectional, is a conceptual fallacy« (Lupri 2004).

These 7: Häusliche Gewalt vor dem Hintergrund einseitig favorisierender Theorie

Familiäre Gewalt gegen Frauen und Kinder wird auch deshalb als allgegenwärtig angesehen, weil ihr Zustandekommen vor dem Hintergrund gesellschaftlich patriarchalischer Machtstrukturen erklärt wird. Der Begriff Patriarchat in seiner ursprünglichen historischen Fassung (vgl. Gordon 1994) bezeichnet eine Familienform, in der Väter die Kontrolle über Kinder, Frauen und Bedienstete ausübten.

Die Power-Control-Theory rekurriert auf patriarchalische Machtstrukturen. Zwei zentrale Elemente dieser Theorie, nämlich Macht und Kontrolle, die häufig herangezogen werden, um das Zustandekommen von Gewalt zu erklären, wurden von Schmitt (2001) hinsichtlich des Zusammenhanges von Geschlecht und Gewalt empirisch geprüft. Sein diesbezügliches Ergebnis: Die in dieser Studie erfolgte Überprüfung der zentralen Annahme, nach der vom Geschlecht auf Gewalt zu schließen wäre, konnte nicht bestätigt werden. Auf heutige gesellschaftliche Verhältnisse bezogen, ist es mir u.a. aus der praktischen Arbeit mit Opfern von häuslicher Gewalt, nicht möglich, diese Vorherrschaft des Mannes (bzw. Vaters) über die Familie als ein zentrales Merkmal wahrzunehmen.

In der Buchveröffentlichung „Vatertheorien“, es handelt sich dabei um eine Habilitationsschrift, hat Drinck (2005) diese Annahme als Mythos entlarvt: „Doch gab es diesen Pater familias, diesen uneingeschränkten Herrscher über sein Haus, wie er der Antike zugeschrieben wird, wirklich? Nein, meint Drinck, Privatdozentin an der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Freien Universität Berlin“ (Gottfried Oy, tazmag 28.05.05).

3. Dunkelfeldforschungen für die Bundesrepublik Deutschland

Nun stelle ich Ihnen Dunkelfeldstudien über die Verteilung von Gewalt in heterosexuellen Paarbeziehungen für die Bundesrepublik Deutschland vor. Für Nordamerika verweise ich auf die kommentierte Bibliographie von Fiebert (2001) hin: »References Examining Assaults by Woman on their Spouses or Male Partners: An annotated Bibliography«. Dunkelfeldstudien erfassen das Vorhandensein von Gewalt zu einem Zeitpunkt, indem diese noch nicht öffentlich, also im Hellfeld, wahrnehmbar ist.

3.1 Die Studie des kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN)
An der Repräsentativität dieser Studie bestehen keine Zweifel. An ihr nahmen 15.771 Personen teil.

»Für den Bereich der innerfamiliären Gewalt wurde in 5.711 Fällen die Drop-off-Technik als zusätzliche Erhebungsmethode angewandt. Ergänzend zu den mündlichen Interviews wurden die Befragten gebeten einen standardisierten Fragebogen selbständig auszufüllen. Dadurch sollte die Anonymität in besonderem Maß gewährleistet werden und Intervieweffekte, durch die Abwesenheit des Interviewers, reduziert werden. Somit sollte es auch den Menschen, denen es schwer fällt sich im direkten Interview mitzuteilen, erleichtert werden, über ihre Gewalterfahrungen im häuslichen Bereich zu berichten. […]

Der Beziehungskontext der befragten Personen wurde in dieser Studie nicht auf Paarbeziehungen begrenzt, sondern es wurde insgesamt der Kontext enger sozialer Beziehungen vorgegeben, welcher eine Vielzahl möglicher Beziehungskonstellationen b einhaltet: Verwandtschaftsbeziehungen über den Bereich der Kernfamilie hinaus, Ehebeziehungen, nichteheliche Partnerschaften, Beziehungen zu Pflegepersonen oder Haushaltsmitgliedern. […]

In den alten Bundesländern kommt es 1991 in 10,5 %der Fälle zu physischen Gewalttätigkeiten in engen sozialen Beziehungen bei der Altersgruppe der Zwanzig- bis 39-Jährigen, in den neuen Bundesländern liegt die Anzahl bei 7 %. Die Gruppe der 40- bis 59-Jährigen weist in den alten Bundesländern 8,8 % und in den neuen Bundesländern 2,5 % an männlichen Opfern auf« (Arnhold 2004).

Dieser Studie zufolge werden 214.000 Männern und 246.000 Frauen pro Jahr Opfer schwerer physischer Gewalt (Bock 2001).

3.2 Die Studie von Anke Habermehl
Die Studie von Habermehl (1989) war Bestandteil einer Dissertation an der Universität Bielefeld. Sie befragte 553 Männer und Frauen aus der Bundesrepublik Deutschland und gelangte zu folgenden Ergebnissen:

»Von allen Männern und Frauen zwischen 15 und 59 Jahren, die schon einmal einen Partner hatten bzw. die einen Partner haben, waren 63,2 % schon einmal Gewalt ausgesetzt: 68,1 % der Männer und 58 % der Frauen haben schon einmal Gewalt in der Partnerschaft erlebt. 43,3 % der Männer und 34,7 % der Frauen sind schon einmal von einem Partner misshandelt worden, d.h. sie waren einer Form von Gewalt ausgesetzt, die ein Verletzungsrisiko einschließt.

[…] Bei der partnerschaftlichen Gewalt besteht nicht nur, wie die Literaturanalysen ergeben haben, ein ausgewogenes Täter-Opfer-Verhältnis zwischen Männer und Frauen, sondern sogar ein leichter Frauenüberschuss auf der Täterseite: Mehr Frauen als Männer setzen Gewalt gegen ihren Partner ein – mehr Männer als Frauen haben schon Gewalt durch ihre Partnerin erlebt. […]

Nicht nur partnerschaftlicher, sondern auch der elterlichen Gewalt sind mehr Jungen als Mädchen ausgesetzt. Auch hier stimmen die Ergebnisse der vorliegenden empirischen Untersuchung mit denen der Literatur – Analysen überein«.

3.3 Die Studie von Gerhard Amend
Physische Gewalt, die unter Partnern in der Scheidungs- und Trennungsphase auftritt, hat Amendt in seiner sog. Väterstudie mit erhoben (die hier berichteten Zahlen sind ein Zwischenergebnis):

»Von bislang 700 anonym befragten Männern der zweiten Befragungswelle gaben 203 an, dass es kurz vor oder während ihrer Trennung zu Handgreiflichkeiten gekommen sei. Dazu zählten beispielsweise Schläge ins Gesicht, der Wurf einer Tasse, schmerzhafte Fußtritte wie auch Angriffe mit einem Messer und der Sturz von einer Treppe, den Exfrau und Schwiegermutter vereint herbeiführten. […] In 18% Prozent der erhobenen Fälle gehen die Handgreiflichkeiten von Männern, in 60 Prozent von ihren Partnerinnen aus. In 22 Prozent der erhobenen Fälle gehen die Handgreiflichkeiten von beiden Partnern aus«.

Die Repräsentativität dieser Daten ist – so (auch) Amendt einschränkend gegeben, da die Befragten über ein sehr hohes Einkommens- und Bildungsniveau verfügten, das nicht dem Durchschnitt der Bevölkerung entspreche.

Unter heuristischen Gesichtspunkten und als Ausgangspunkt für weitere Forschungen sind diese Zahlen allemal Hinweis genug!

3.4 Die Studie von Luedtke & Lamnek
»Gegenstand dieser Studie ist körperliche Gewalt in Familienhaushalten mit zwei biologischen und/ oder sozialen Elternteilen und Kindern im Jugendalter, wobei sowohl Partnergewalt (Mann-Frau und Frau-Mann-Gewalt) sowie Eltern-Kind-Gewalt erfragt wurde. Erhoben wurde jeweils das Gewaltaufkommen (Prävalenz) insgesamt und jenes der letzten 30 Tage«.

Es wurden insgesamt 2008 Haushalte befragt. Die Anzahl der Haushalte, die an der Auswertung teilnahmen, beträgt 1236. Die Rücklaufquote beläuft sich somit auf 62,4%. Familien in denen es nicht zur physischen Gewaltanwendung kam, machten einen Anteil von 65,7% aus. Eltern-Kind-Gewalt wurde mit 28,4 % am häufigsten ermittelt (28, 4 % = 351 Kinder). Hoch signifikant ist der Zusammenhang von Partnergewalt und Eltern-Kind-Gewalt.

»Unter denen, die schon einmal körperlich gegen den Partner vorgegangen sind, ist auch die Rate derer erheblich größer, die bei der Erziehung ihrer jugendlichen Kinder körperliche Gewalt einsetzen (60%) gegenüber (30,7%) bei denjenigen, die ihren Partner nicht ohrfeigten usw«.

Väter und Mütter üben in etwa im gleichen Maße Eltern-Kind-Gewalt aus. Bezogen auf das elterliche Bildungsniveau wurden keine Unterschiede im Gewalthandeln gegenüber den Kindern festgestellt. Nur Partnergewalt wurde in 2,4 % der befragten Familien ermittelt. Partner- und Eltern-Kind-Gewalt wurde in 3,5 % der Familien ermittelt. […] In dieser Studie geben mehr Männer als Frauen signifikant häufiger an, Gewalt erfahren zu haben. (Luedtke & Lamnek 2002).

Resümee: Hellfeldzahlen sind bereits ausgelesene Daten, die den Teil der häuslichen Gewalt öffentlich machen, der derzeit in unserer Gesellschaft bearbeitet wird (Bock 2001, Brauner 2004). Dunkelfeldstudien zeigen, in Bezug auf das Geschlecht von Tätern und Opfern, übereinstimmend eine Gleichverteilung von Gewalt in engen sozialen Beziehungen an (vgl. Schwithal 2005, Lamnek & Boatcâ 2003).

Häusliche Gewalt ist nicht ein Phänomen des Geschlechts eines Menschen, wenn Häufigkeiten zu ungunsten von Mann oder Frau ermittelt werden (vgl. Lupri 2004, Bock 2003a, 2003b, Kelly 2003). Aus Dunkelfeldstudien wissen wir, dass der Anteil von gewalttätigen Familien, gemessen an der Gesamtbevölkerung eines Landes, in etwa bei 5 – 15 % liegt.

4. Erklärungsmodelle für häusliche Gewalt

Zum Abschluss möchte ich einen kursorischen Überblick von Erklärungsmodellen für häusliche Gewalt geben (vgl. Schick 2004).

Werden die in meinen Ausführungen gemachten Einschränkungen (vgl. Kelly 2003) bezüglich der Interpretation und Aussagekraft von Hellfeldzahlen aufgenommen und überwunden, so öffnet sich der Blick auf Gewalt, für eine Vielzahl möglicher Erklärungsansätze und damit auch möglicher Gewaltakteure und darüber hinaus für neue Formen de r Intervention, also Prävention, Beratung und Therapie (vgl. Müller 2003).

Hier wären folgende theoretische Bezugssysteme zu nennen: Psychopathologische- und psychoanalytische Erklärungsansätze (Personenzentrierte Theorien); die sozialen Lerntheorien, stresstheoretische – und symbolisch – interaktionistisch orientierte Ansätze (Sozialpsychologische Theorien); ressourcen- und austauschtheoretische und feministisch – patriarchatskritische Erklärungsansätze (Soziokulturelle Theorien) sowie multifaktorielle Ansätze.

»Psychopathologische Ansätze betrachten aggressives Verhalten als Folge von charakteristischen Auffälligkeiten, Persönlichkeitsstörungen und Intelligenzdefiziten des Täters / der Täterin. […] Die soziale Lerntheorie […] besagt, dass Individuen die Tendenz haben, sich neue (und komplexe) Verhaltensweisen anzueignen, indem sie Verhaltensweisen an Anderen (und deren Konsequenzen im realen Leben) oder an symbolischen Vorbildern beobachten. […] Stresstheorien gehen von der Grundannahme aus, dass Gewalt durch bestimmte Formen stressbehafteter Belastungen ausgelöst wird.«

[…] In symbolisch-interaktionistisch orientierten Ansätzen […] wird eine Handlung (also z.B. Gewalt) nicht aufgrund objektiv zu messender Kriterien zu einer Gewalttat, sondern erst durch die von den Individuen der entsprechenden Handlung zugeschriebenen Bedeutungen. Soziostrukturelle Theorien […] »verbinden individuelle Faktoren (z.B. Aggression) mit sozialen Strukturen« (z.B. Macht, Klasse) und erklären so dass Zustandekommen von Gewalt.

»Ressourcentheoretische Ansätze gehen davon aus, dass Individuen oder Gruppen mit bestimmten Mitteln versuchen ihre Ziele durchzusetzen«, die da nn zur Androhung oder Ausübung von Gewalt führen können. […].

»Multifaktorielle Ansätze kombinieren verschiedene Faktoren als verursachende Aspekte miteinander« (Schick 2004).

Die angeführte Aufzählung von Erklärungsansätzen ist nicht vollständig. Diese ließe sich noch erweitern.

5. Literatur

Arnhold, Susann (2004): Häusliche Gewalt gegen Männer in heterosexuellen Partnerschaften – ein soziales Problem? Hochschule für Technik, Wir tschaft und Kultur, Leipzig (HTWK). Unveröffentlichte Diplomarbeit.

Amendt, Gerhard (2004): Scheidungsväter. Institutürf Geschlechter- und Generationenforschung, Bremen. (Abschlussbericht der Väterstudie)

Badinter, Elisabeth (2004): Die Wiederentdeckung der Gleichheit. Ullstein Hc.

Bock, Michael (2003a): Natürlich nehmen wir den Man n mit. Über Faktenresistenz und Immunisierungsstrategien bei häuslicher Gewalt. Lamnek, Siegfried & Boatcá, Manuela (Hrsg.) : Geschlecht ? Gewalt ? Gesellschaft. Leske & Budrich, Opladen.

Bock, Michael (2003b): Selektive Wahrnehmung führt zum Mythos männlicher Gewalt. Häusliche Gewalt – ein Problemaufriss aus kriminologischer Sicht. In: Sicherheit und Kriminalität. Heft 1/ 2003, Hrsg: Landeszentrale für politische Bildung, Baden-Württemberg.

Bock, Michael (2001): Sachverständigengutachten ?Gewaltschutzgesetz?- Anhörung beim Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages am 20.06.01. Universität Mainz. In: Sticher- Gil, B. (Hrsg.) (2002): Gewalt gegen Männer – ein vernachlässigtes Problem!? Dokumentation einer Tagung am 18. November in der Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege in Berlin.

Brauner, Uwe (2004): Feministischer Fundamentalismus in der „Evangelischen Theologie“? Veröffentlicht bei: http://www.maennerbuero-trier.de/seite7-7.htm

Drinck, Barbara (2005): Vatertheorien. – Geschichte und Perspektiven. Budrich, Opladen.

Fiebert, Martin S. (2001): References Examining Assaults by Women on their Spouses or Male Partners: An annotated Bibliography. Department of Psychology, California State University, Long Beach, http://www.csulb.edu/~mfiebert/assault.htm.

Gordon, Linda (1994): Gewalt in der Familie, Feminismus und soziale Kontrolle. In: Kaiser, Nancy (Hrsg.): Selbst Bewusst. Reclam, Leipzig.

Graumann, C. F. (1960): Eigenschaften als Problem der Persönlichkeitsforschung. In: Lersch, P.; Thomae, H. (Hrsg.): Persönlichkeitsforschung un d Persönlichkeitstheorie. Handbuch der Psychologie Bd. 4, Göttingen (Hogrefe). 87-154.

Habermehl, Anke (1989): Gewalt in der Familie. – Ausmaß und Ursachen körperlicher Gewalt. Dissertation, Universität Bielefeld.

Kelly, Linda (2003): Disabusing the Definition of Domestic Abuse: – How Women Batter Men and the Role of the Feminist State. Florida State University, Law Review – Summer 2003,http://www.law.fsu.edu/journals/lawreview/downloads/304/kelly.pdf.

Lamnek, Siegfried & Ottermann, Ralf (2004): Tatort Familie. – Häusliche Gewalt im gesellschaftlichen Kontext. Leske + Budrich.

Lamnek, Siegfried & Boatcá, Manuela (2003) (Hrsg.) : Geschlecht ? Gewalt ? Gesellschaft. Leske & Budrich, Opladen.

Luedtke, Jens & Lamnek, Siegfried (2002): Schlägeni jeder dritten Familie. – Studie zu Gewalt in bayerischen Familien – Kinder am häufigsten Opfer. In: Magazin „Agora“ der Katholischen Universität Eichstätt, Nr. 1 / 2002, S. 8-9.

Lupri, Eugen (2004): Institutional Resistance to Acknowledge Male Abuse. Paper presented at the Counter-Roundtable Conference on Domestic Violence, Calgary, Alberta, Canada, May 7, 2004. Unveröffentlicht.

Mansel, Jürgen (2003): Die Selektivität strafrechtlicher Sozialkontrolle. Frauen und Delinquenz im Hell- und Dunkelfeld, als Täter und Opfer, als Angezeigte und Anzeigende. In: Lamnek, Siegfried & Boatcá, Manuela (Hrsg.): Geschlecht ? G ewalt ? Gesellschaft. Leske & Budrich, Opladen.

Müller, Joachim (2003): Kinder, Frauen, Männer. – Gewaltschutz ohne Tabus. In: Lamnek, Siegfried & Boatcá, Manuela (Hrsg.): Geschlecht ? G ewalt ? Gesellschaft. Leske & Budrich, Opladen.

Popp, Ulrike (2003): Das Ignorieren „weiblicher“ Gewalt als Strategie zur Aufrechterhaltung der sozialen Konstruktion von männlichen Tätern. :InLamnek, Siegfried & Boatcá, Manuela (Hrsg.): Geschlecht ? Gewalt ? Gesellschaft. Leske & Budrich, Opladen.

Schick, Corinna (2004): Aggressives Verhalten in der Paarbeziehung: Der Mann als Opfer und die Frau als Täterin. Unveröffentlichte Diplomarbeit: FH Würzburg-Schweinfurt-Aschaffenburg.

Schmitt, Stefan (2001): Geschlecht und Kriminalität? Eine empirische Analyse der Power-Control-Theory. In: Eifler, Stefanie et al. (Hrsg.): Soziale Probleme, Gesundheit und Sozialpolitik. – Gelegenheitsstrukturen und Kriminalität. Materialien und Forschungsberichte der Universität Bielefeld, Nr. 2, S. 84 ff.

Schwithal, Bastian (2005): Weibliche Gewalt in Partnerschaften. – Eine synontologische Untersuchung.

BoD GmbH, Norderstedt. ISBN: 3-8334-3156-3. Dissertation Universität Münster.

Steiner, Silvia (2004): Die Familie als Tatort. – Eine Studie über häusliche Gewalt in der Stadt Zürich. Rüegger, Schweiz.

Wilde, Helmut (2002a): Leserbrief wg. „Lief Herr S. Amok?“ von Gerhard Hafner, Heft 152. In: Switchboard – Zeitschrift für Männer- und Jungenarbeit, Nr. 153, August/September, ISSN: 1 433 3341.

Wilde, Helmut (2002b): Liebe und Gewalt. – Wenn Frauen zu Täterinnen werden. Switchboard – Zeitschrift für Männer- und Jungenarbeit, Nr. 154, Oktober / November. ISSN: 1 433 3341.

Bildquelle: (c) S. Hofschläger/www.pixelio.de

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