Offener Brief an den Vorsitzenden des Grundschulverbands

von Manndat

 An:
Dr. h.c. Horst Bartnitzky
Duisburg

Betr.: Jungengerechte Schule – Offener Brief
– Ihre Kritik an Jungen ansprechenden Themen beim VERA-Vergleichstest

Sehr geehrter Herr Bartnitzky,

wie wir aus der Presse erfahren mussten, haben Sie sich öffentlich beschwert, dass Jungen bei den diesjährigen VERA-Tests bevorzugt würden, weil man für den Deutschtest diesmal ein Thema gewählt hat, das auch Jungen anspricht, nämlich Piraten.

Wir sind etwas überrascht, dass der Versuch, die Leseinteressen von Jungen stärker zu berücksichtigen, auf solche Kritik stößt.

Etwa jeder zehnte Junge ohne Migrationshintergrund und fast jeder vierte Junge mit Migrationshintergrund verlässt heute die Schule ohne einen Abschluss. In allen Bundesländern beträgt der Jungenanteil in Sonderschulen über 60%. Unabhängig vom sozialen Hintergrund der Eltern ist der Jungenanteil an höher führenden Schulen signifikant geringer als der Mädchenanteil. In allen Fächerbereichen finden sich mehr männliche als weibliche Schüler auf der untersten Kompetenzstufe. Laut nationalem Bildungsbericht von Deutschland aus dem Jahr 2008 nimmt das Risiko für Jungen und junge Männer, im Bildungssystem zu scheitern, zu.

Schon im Jahr 2000 hat die PISA-Studie die schlechten Leseleistungen der Jungen als eine große bildungspolitische Herausforderung bezeichnet. Danach sind mehr als die Hälfte der Jungen in Deutschland nur Pflichtleser, lesen also nicht aus eigenem Antrieb. Dies ist signifikant schlechter als der PISA-Durchschnitt und doppelt so schlecht wie bei den Mädchen. Drei Jahre später benannte die OECD Jungenleseförderung als primäres Bildungsziel weltweit.

Noch im Jahr 2005 belegte das Bundesbildungsministerium, dass die Schultexte Jungen nicht zum freiwilligen Lesen animieren und auch die Unterrichtsmaterialien die Interessen der Jungen meist nicht ansprechen und an ihrer Lebenswirklichkeit vorbeigehen.

2007, also sieben Jahre nach der ersten PISA-Studie, bezeichnete der nationale Bildungsbericht für Deutschland 2006 „die spezifische Förderung von Jungen“ als „ein noch nicht eingelöstes Desiderat der Leseerziehung in Deutschland.“

Während Deutschland sich dieser bildungspolitischen Herausforderung nicht stellt, weil man nicht bereit ist, auf die geschlechtertypischen Leseinteressen einzugehen, werden in angelsächsischen Ländern Jungenbücher zum Bestseller (z.B. „Dangerous Book for Boys“ oder „Gregs Tagebuch“). Dies zeigt deutlich, dass Jungen lesen wollen. Wir müssten ihnen lediglich jungengerechtere Lektüre anbieten. Vergleicht man stattdessen die IGLU- und PISA-Werte für die Lesekompetenz, zeigt sich, dass sich die geschlechterspezifischen Unterschiede zuungunsten der Jungen während der Schulzeit sogar noch vergrößern. Die Schule ist also derzeit nicht in der Lage, einen geschlechtergerechten Unterricht anzubieten, sondern die Unterschiede nehmen während der Schulzeit sogar noch zu.

Schon im Jahr 2004 schrieben Schilcher/Hallitzky in „Neue Leser braucht das Land! Zum geschlechterdifferenzierenden Unterricht mit Kinder- und Jugendliteratur“: „Moderne Jungenbücher dürfen zum großen Teil als Bedrohung für die männliche Selbstfindung erlebt werden. Viele typische Klassenlektüren – meist entnommen aus dem Kanon der ‚guten‘ Kinder- und Jugendliteratur – haben einen sensiblen, schwachen Jungen als Protagonisten.“

Und schließlich: In der Studie „Bildungsmisserfolge von Jungen“ des Bundesbildungsministeriums wird dargelegt, dass Jungen bei gleichen Schulleistungen schlechtere Noten erzielen und seltener an höhere Schulen empfohlen werden als Mädchen. Dies ist eine klare Benachteiligung von Jungen. In manchen Grundschulen beträgt der Anteil von Jungen, die nach der vierten Klasse an höhere Schulen empfohlen werden, gerade mal die Hälfte des Anteils der Mädchen.

Zu all diesen Tatsachen konnten wir jedoch niemals Ihre Entrüstung aus der Presse entnehmen. Aber nun, da in einem einzigen Test ein Thema gewählt wurde, das auch Jungens ansprechen könnte, beklagen Sie gleich vehement eine Bevorzugung von Jungen.

Betrachtet man sich die Arbeitsschwerpunkte Ihres Grundschulverbands für die Amtsperiode Mai 2008 bis Mai 2012, wird ein Themenpunkt „Bildungsgerechtigkeit“ genannt. Schaut man in das Papier, legen Sie zwar zu Recht dar, dass das Ziel der Bildungsgerechtigkeit in Deutschland bislang immer noch verfehlt wird. Aber liest man weiter, stellt man fest, dass Sie lediglich die Abhängigkeit des Bildungsniveaus vom Migrationshintergrund und vom sozialen Status bemängeln. Die geschlechterspezifische Abhängigkeit des Bildungsniveaus wird jedoch noch nicht einmal genannt, geschweige denn kritisiert.

Wir bedauern, dass offenbar auch heute noch die Bildungsmisserfolge von Jungen in der Grundschule nicht nur ignoriert, sondern offenbar als Gott gegebene Selbstverständlichkeit aufgefasst werden. Das Bildungswesen hat die Aufgabe, Mädchen UND Jungen optimal zu fördern. Und wenn es Hinweise gibt, dass ein Geschlecht Nachteile oder gar Benachteiligungen erfährt, sind wir in der Verantwortung, die Ursachen zu ergründen und diese zu beseitigen. Dies hat man bei den Mädchen mit Erfolg getan. Bei Jungen stellt man sich dieser Aufgabe bislang nicht ernsthaft.

Wir fordern Sie deshalb auf, die Benachteiligung von Schülern wegen ihres Geschlechts genauso zu verurteilen und zu beseitigen, wie die Benachteiligung durch andere Faktoren.

Wir fordern weiterhin die Verstetigung der Leseförderung von Jungen in der Schule. Sie darf sich nicht nur auf einen einzigen Test beschränken. Ein einzelner Text, der nur einmal die Interessen von Jungens anspricht, ohne dass die Schule selbst jungengerechter wird, kann zudem zu einer Verschleierung der tatsächlichen Probleme von Jungen führen.

Wir werden diesen Brief auf unserer Internetseite veröffentlichen. Eine eventuelle Antwort von Ihrer Seite werden wir ebenfalls veröffentlichen.

Mit freundlichen Grüßen

Antwort des Herrn Bartnitzky:

Sehr geehrter Herr Köhler,

leider haben Sie bei Ihrer Empörung übersehen, worum es in diesem Aspekt der Kritik an VERA 3 (Vergleichsarbeiten für 3. Klassen) ging: Tests, wenn sie denn aussagekräftig sein sollen, dürfen nicht eine Gruppe der Getesteten bevorzugen, weder die Jungen noch die Mädchen, weder Mittelschichtkinder noch Migrantenkinder. Die wichtigen PISA- und IGLU-Ergebnisse zu den Lesefähigkeiten von Jungen und Mädchen im Vergleich wären nie deutlich geworden, wenn gegen diesen Grundsatz der Testmethodik verstoßen worden wären. Es ging also hier in keiner Weise um die Frage nach geeignetem Lesestoff oder der Lesedidaktik zur Leseförderung, sondern um einen rein testmethodischen kritischen Hinweis. Das Lesen unserer Pressemitteilung hätte dies bereits klären können.
Mit freundlichem Gruß –
Dr. Horst Bartnitzky
Vorsitzender des Grundschulverbandes

Die Reaktion von MANNdat auf diese Antwort:

Sehr geehrter Herr Bartnitzky,

wir danken Ihnen für Ihre Rückantwort. Leider haben Sie bei Ihrer Empörung übersehen, dass wir den von Ihnen beschrieben Aspekt gar nicht kritisieren. Was wir kritisieren ist, dass sie die mutmaßlichen Nachteile von Mädchen umgehend bemängeln, wir aber in den letzten Jahren keine ähnliche Kritik von Ihnen zu den Nachteilen von Jungen – auch in Grundschulen – vernehmen konnten. Mutmaßlich bezeichne ich diese Nachteile übrigens deshalb, weil mir keine Studie bekannt ist, die belegen würde, dass Mädchen seltener Piratengeschichten lesen als Jungen. Die Tatsache, dass dies ein Thema ist, an dem viele Jungen interessiert sind, heißt ja nicht, dass deswegen Mädchen automatisch benachteiligt sind. Hier möchte ich Sie bitten, mir Ihre Quelle zu nennen, die Sie zu Ihrer Bewertung veranlasst hat.

Außerdem klärt Ihre Antwort immer noch nicht die Frage, weshalb in Ihrem Strategiepapier zwar die Abhängigkeit des Bildungsniveaus vom sozialen Hintergrund und vom Migrationshintergrund kritisiert wird, nicht jedoch die Abhängigkeit vom Geschlecht.

Mit freundlichen Grüßen

Auf die Nennung der entsprechenden Quellen wartet MANNdat nach wie vor vergebens, genauso auf eine Erklärung, weshalb sich Herr Bartnitzky bisher noch nie zur Benachteiligung von Jungen geäußert hat. Das verwundert nicht wirklich. Interessant ist indes ein anderer Fakt. Als Reaktion auf diesen offenen Brief erhielt MANNdat eine Menge Post – nahezu ausschließlich positive und unterstützende Reaktionen, darunter auch von zwei Landeselternräten!

 

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