Berücksichtigung jungenspezifischer Belange in den für Bildung zuständigen Ministerien in Deutschland 2008
Was sagen die Bildungsministerien?
Die 16 Länderbildungsministerien (10.04.08) und das Bundesbildungsministerium (14.03.08) haben wir per Mail (bzw. Brief beim Bundesbildungsministerium) angeschrieben und auf Grundlage des im Januar 2008 erschienenen Bildungsberichtes „Bildungs(miss)erfolge von Jungen und Berufswahlverhalten bei Jungen/männlichen Jugendlichen“, (herausgegeben vom Bundesbildungsministerium selbst) angefragt, welche Maßnahmen zur Beseitigung der Bildungsbenachteiligungen von Jungen vorgesehen seien.
Die Anfrage
Die Anfrage an die Länderministerien lautete:
„Das Bundesbildungsministerium hat vor etwa vier Monaten die Studie „Bildungs(miss)erfolge von Jungen und Berufswahlverhalten bei Jungen/männlichen Jugendlichen“ veröffentlicht. Sie zeigt einen erheblichen Handlungsbedarf von Seiten der Bildungspolitik.
Besonders auffallend sind die defizitären Datenlagen zur Bildungssituation von Jungen. Bis heute, also acht Jahre nach der ersten PISA-Studie, gibt es noch keine Studie, die umfassend und abschließend die Ursachen für die schlechteren Bildungsleistungen der Jungen untersucht hätte.
Im aktuellen Diskurs fehlen spezielle Untersuchungen über Jungen mit Migrationshintergrund. Zudem fehlen Studien, die die Relevanz männlicher Lehrkräfte für die Bildungsleistung von Jungen eindeutig belegt hätten. Hier wird also seit Jahren die Diskussion auf unseriöser Basis geführt.
Schon die PISA-Studie 2000 hat Jungenleseförderung als eine der größten bildungspolitischen Herausforderungen dargestellt. Zu den mittelfristigen Aufgaben der geschlechterspezifischen Leseförderung gehört, Leseförderung als System mit vielen Akteuren zu begreifen und kontinuierlich zu betreiben. Schulen, Bibliotheken, Buchverlage und Eltern müssen miteinander kooperieren.
Zweifellos dringender Handlungsbedarf besteht bei der Feststellung, dass Jungen bei gleichen schulischen Kompetenzen schlechtere Noten erhalten als Mädchen. Dies ist nicht ver-fassungskonform.
Auf Basis der Sozialisationstheorie wurden jungentypische Verhaltensweisen an den Schulen und Kindergärten in den letzten 20 Jahren als grundsätzlich defizitär angesehen. Dadurch wurde ein sehr negatives Jungenbild kolportiert. So weist die Studie auch darauf hin, dass ein solch negatives Jungenbild bei Lehrer/innen und bei Eltern vorherrscht. Untersuchungsbedarf besteht deshalb auch darin, welchen Einfluss die in den letzten Jahrzehnten zunehmend einseitige Ausrichtung der Pädagogik auf Mädchenbedürfnisse bezüglich der Bildungsmisserfolge von Jungen hat.
Die schlechte Bildungssituation der Jungen hat mittlerweile erhebliche Auswirkungen auf die Zukunftsperspektiven von männlichen Jugendlichen. Die männliche Jugendarbeitslosigkeit war 2005 um etwa 40% höher als die weibliche. Der Anteil männlicher Studienabschlüsse im Bereich Ingenieurwesen ist von 1995 zu 2005 um über 30% gesunken. 10% der männlichen Jugendlichen bleibt ohne Schulabschluss. Fast jeder 4. männliche Migrantenjugendliche verlässt die Schule ohne einen Abschluss.
Abgesehen von den erheblichen persönlichen Konsequenzen für den einzelnen Jungen, sind dies Fakten, die in einem Land, in dem Bildung der wichtigste volkswirtschaftliche Faktor darstellt und ein Fachkräftemangel beklagt wird, eigentlich Anlass zur ernsthaften Besorgnis geben müsste. Die Nachqualifizierung der „Schulversager“ kostet den Staat jährlich etwa 3,4 Milliarden Euro. Unberücksichtigt ist hierbei der volkswirtschaftliche Schaden, der dadurch entsteht, dass das Bildungspotenzial von Jungen nicht ausreichend genutzt wird.
Die Studie „Bildungs(miss)erfolge von Jungen und Berufswahlverhalten bei Jungen/männlichen Jugendlichen“ zeigt, dass die Zeit überreif ist, nunmehr effektive Maßnahmen zur Verbesserung der Chancengleichheit von Jungen im Bildungswesen umzusetzen.
Aus diesem Grunde fragen wir an, welche Maßnahmen von Ihrer Seite kurz-, mittel-und langfristig geplant sind, um Jungen und männlichen Jugendlichen bessere Bildungschancen und bessere Zukunftsperspektiven zu geben. Wir wollen diese Problematik verstärkt auf unseren Internetseiten und über unsere Medienkontakte öffentlich thematisieren.“
Die Bewertungskriterien
Die Antworten wurden auf Grund folgender Fragestellungen ausgewertet.
- Hat das Ministerium geantwortet?
- Sollen Untersuchungen zu den Ursachen der schlechteren Bildungsleistung von Jungen durchgeführt werden?
- Soll die defizitäre Datenlage durch Untersuchungen behoben werden?
- Was wird über Jungen mit Migrationshintergrund ausgesagt?
- Gibt es spezielle Jungenleseförderprojekte?
- Wie wird auf die Tatsache eingegangen, dass Jungen bei gleichen schulischen Kompetenzen schlechtere Noten erhalten als Mädchen?
- Was wird über die Motorikförderung von Jungen ausgesagt?
- Was wird über die Förderung von Jungen im sprachlichen Bereich ausgesagt?
- Gibt es spezielle Fortbildungen für Lehrer/innen zur Bildungsförderung von Jungen?
- Gibt es Berufswahlprojekte für Jungen?
- Gibt es Maßnahmen zur Erhöhung des Männeranteils in Schulen/Kindergärten?
Die Punkte wurden wie folgt vergeben: 0 Punkte für keine Aussage/Antwort 1 Punkt für konkretes Projekt/Maßnahme/Antwort 2 Punkte für hervorragendes Projekt/Maßnahme/Antwort
Auswertung der Antworten
Hier wurde ausgewertet, welche Themenbereiche vorrangig und welche nachrangig behandelt werden.
- Wie viele Ministerien haben geantwortet? 12 von 17 (71%)
- Wie häufig ist auf die Notwendigkeit einer Untersuchung der Ursachen der schlechteren Bildungsleistung von Jungen eingegangen worden? 1 von 17 (6%)
- Wie häufig ist auf das Thema „defizitäre Datenlage“ eingegangen worden? 2 von 17 (12%)
- Wie häufig wurde etwa Konkretes zum Thema „Migrantenjungen“ genannt? 2 von 17 (12%)
- Wie oft wurde auf Jungenleseförderung eingegangen? 6 von 17 (35%)
- Wie häufig wurde die Ungleichheit beklagt, dass Jungen bei gleichen schulischen Kompetenzen schlechtere Noten erhalten als Mädchen? 0 von 17 (0%)
- Wie häufig wurde das Thema „Motorikförderung von Jungen“ aufgegriffen? 0 von 17 (0%)
- Wie häufig wurde das Thema „Sprachförderung von Jungen“ aufgegriffen? 2 von 17 (12%)
- Wie häufig wurde das Thema „Fortbildungen für Lehrer/innen zur Bildungsförderung von Jungen“ aufgegriffen? 4 von 17 (24%)
- Wie häufig wurde das Thema „Berufswahlprojekte für Jungen“ aufgegriffen? 6 von 17 (35%)
- Wie häufig wurde das Thema „Männeranteil in Kindergarten/Schule“ aufgegriffen? 4 von 17 (24%)
Evaluierung der Ergebnisse
Im Vergleich zur ersten Studie im Jahr 2006 gab es einige positive und einige negative Über-raschungen. Sehr positiv ist, dass Brandenburg sich weiterhin engagiert der Jungenthematik widmet, wie vor einigen Jahren. Im Vergleich zu 2006 sehr positiv entwickelt hat sich insbesondere Bremen.
Etwas enttäuschend war im Vergleich zu 2006 die Antwort aus Bayerns Bildungsministerium, das nur sehr allgemein antwortete.
Vier Länderministerien haben überhaupt nicht geantwortet! Neben dem Bundesbildungsministerium, dessen mangelnde Dialogbereitschaft zum Thema „Bildungssituation von Jungen“ symptomatisch für das mangelnde Interesse der Bundespolitik an diesem Thema ist, waren dies Hamburg, Schleswig-Holstein, Saarland und Sachsen-Anhalt. Bei Hamburg ist dies überraschend, da Hamburg 2006, als wir die Bildungsministerien erstmals untersuchten, interessante Ansätze erkennen ließ. Offensichtlich sieht die Realität doch etwas anders aus.
Auffallend war, dass Rheinland-Pfalz nicht auf sein Jungenförderprogramm hingewiesen hat, das ab 2009 bis 2010 als Modellversuch in einigen Ganztagesschulen angesiedelt werden soll. Wie diese Förderung im konkreten Fall aussehen soll (Sozialisationsarbeit oder Bildungsförderung), konnten wir noch nicht erfahren.
Erfreulich ist, dass immerhin 12 von 16 Länderministerien geantwortet haben. Dort, wo die Dialogbereitschaft vorhanden ist, ist sicher auch die Basis für eine Kooperation der Eltern und Lehrerschaft mit den Ministerien beim Thema „Jungen und Bildungsförderung“ gegeben.
Bei der Auswertung der Antworten zeigte sich, dass nach wie vor „Jungenförderung“ oftmals aus Sozialisationsarbeit besteht. Eine konkrete Förderung in schulischen Kompetenzen, wie Sprache, Motorik oder Lesen ist signifikant nur im Bereich Lesen zu erkennen. Auf das Thema „Leseförderung von Jungen“ gingen 35% konkret ein. Dies ist gut ein Drittel und damit zu wenig, als dass man behaupten könne, die Politik würde sich insgesamt (also bundesweit) der schlechten Leseleistung von Jungen als bildungspolitischer Herausforderung stellen.
Nur 2 Ministerien (12%) erwähnten die Sprachförderung von Jungen und kein einziges Ministerium erwähnte die Motorikproblematik von Jungen. Dies ist ernüchternd.
Ebenso überraschend ist die Tatsache, dass lediglich 2 (12%) der Ministerien die schlechte Datenlage zur Bildungsproblematik von Jungen thematisierten. Dies lässt nicht vermuten, dass sich bezüglich der mangelhaften Darstellung der Bildungssituation von Jungen in den meisten Bildungsberichten in Zukunft etwas positiv verändern wird.
Die Frage nach der Ursache für die schlechtere Bildungssituation von Jungen hat sogar nur ein einziges Ministerium aufgegriffen – Brandenburg. Neben dem Bundesbildungsministerium ist Brandenburg das einzige Land, das bislang einen Bericht über die Bildungsproblematik erstellt hat. Trotz einiger Mängel im Bericht ist dies natürlich vorbildlich. Es bleibt zu hoffen, dass andere diesem Beispiel folgen werden. Und es bleibt zu hoffen, dass Brandenburg beabsichtigt auf Grundlage dieser Ergebnisse mehr zu tun, als das Bundesbildungsministerium dies beabsichtigt.
Auf die Ungleichbehandlung von Jungen (schlechtere Noten bei gleichen Kompetenzen; seltenere Empfehlung auf höhere Schulen bei gleichen Noten) ging kein einziges Ministerium ein. Hier wäre es notwendig, dass sich die Politik dieser Tatsache stellt und auch Jungen das Recht auf Chancengleichheit zugesteht. Die Politik der Chancengleichheit darf nicht dort enden, wo die Benachteiligung von Jungen anfängt.
Sachsen relativierte zuerst die Bildungsproblematik von Jungen in seinem Land und übermittelte dann als Beispiel für die „Jungenförderung“ einen Artikel zur konkreten Mädchen-und Frauenförderung in Sachsen.
NRW legte dar, dass das Ministerium die Verantwortung für die Umsetzung der individuellen Bildungsförderung an die Schulen abgibt. Dies ist insofern interessant, da sich das Ministerium durchaus an Projekten zur mädchenspezifischen Bildungsförderung beteiligt.
Berlin war immerhin so ehrlich zuzugeben, dass das Thema bislang vernachlässigt wurde.
Interessant ist auch die Feststellung, dass lediglich in 24% der Ministerien das Thema Männer in Kindergarten/Schule“ aufgegriffen wurde. War dieses Thema in der Vergangenheit noch von wesentlicher Bedeutung, ist es heute kaum noch relevant.
Hier fragt sich, wie sich das „Antierzieherurteil“ vom 20.3.2008 (Az. 2 Sa 51/08) des Landes-arbeitsgerichtes Rheinland-Pfalz in Mainz auswirken wird. Dieses Grundsatzurteil bestätigte, dass Männer allein auf Grund ihres Geschlechtes bei einer Bewerbung als Erzieher abgelehnt werden dürfen. Ein männlicher Sozialpädagoge bewarb sich auf eine Stelle in einem Mädcheninternat. Ein Mann sei für die Mädchen nicht tragbar, da es den Mädchen nicht zugemutet werden könne, dass ein Mann in ihre Intimsphäre eindringe, meinten die Richter.
Sobald Mädchen oder Frauen betreut, erzogen oder gepflegt werden müssen, bleibt aber ein Eindringen in deren Intimsphäre nicht aus. Somit könnten analog dieses Urteils Männer in diesen Berufsbereichen allein auf Grund ihres Geschlechtes abgelehnt werden.
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BUNDESLAND | GEANTWORTET | URSACHEN | DATEN | MIGRANTEN | LESEN | DISKRIMINIERUNG |
Bundesbildungs- ministerium |
||||||
Baden-Württemberg | XX | X | X | XX | ||
Bayern | XX | |||||
Berlin | XX | |||||
Brandenburg | XX | XX | XX | X | XX | |
Bremen | XX | XX | ||||
Hamburg | ||||||
Hessen | XX | X | ||||
Mecklenburg- Vorpommern |
XX | |||||
Niedersachsen | XX | |||||
NRW | XX | |||||
Rheinland-Pfalz | XX | |||||
Saarland | ||||||
Sachsen | ||||||
Sachsen-Anhalt | XX | |||||
Schleswig-Holstein | ||||||
Thüringen | XX |
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BUNDESLAND | MOTORIK | SPRACHE | FORTBILDUNG | BERUFSWAHL | MÄNNERANTEIL | GESAMT |
Bundesbildungs- ministerium |
0 | |||||
Baden-Württemberg | X | 10 | ||||
Bayern | X | 3 | ||||
Berlin | 2 | |||||
Brandenburg | XX | XX | XX | 15 | ||
Bremen | X | X | X | 7 | ||
Hamburg | 0 | |||||
Hessen | X | 4 | ||||
Mecklenburg- Vorpommern |
2 | |||||
Niedersachsen | X | XX | X | 8 | ||
NRW | 2 | |||||
Rheinland-Pfalz | X | 5 | ||||
Saarland | 0 | |||||
Sachsen | 2 | |||||
Sachsen-Anhalt | 0 | |||||
Schleswig-Holstein | 0 | |||||
Thüringen | X | 3 |
Rangfolge
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Platz | Land | Punkte |
1 | Brandenburg | 15 |
2 | Baden-Württemberg | 10 |
3 | Niedersachsen | 8 |
4 | Bremen | 7 |
5 | Rheinland-Pfalz | 5 |
6 | Hessen | 4 |
7 | Thüringen Bayern |
3 |
7 | Mecklenburg-Vorpommern Sachsen NRW Berlin |
2 |
13 | Sachsen-Anhalt Schleswig-Holstein Hamburg Saarland Bundesregierung |
0 |
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Abb. 8: Graphische Darstellung des Auswertungsergebnisses
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