Suizidalität – Männer, die nicht mehr leben wollen
Suizidalität – Männer, die nicht mehr leben wollen
Warum Suizidalität bei älteren Männern oft unbemerkt bleibt – und was getan werden kann
Ein Gastbeitrag von Prof. Michael Klein https://mens-mental-health.de/
Im Juli 2025 wurde öffentlich, dass Wolfgang Grupp, der mit dem Affen in der Werbung einstmals, aber immer noch prominenter deutscher Unternehmer, im Alter von 83 Jahren einen Suizidversuch unternommen hatte. Er äußerte sich anschließend offen über seine Altersdepression und das Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden. Der Fall lenkt den Blick auf ein wenig beachtetes, oft tabuisiertes, aber gravierendes Thema: die hohe Suizidalität unter Männern im mittleren und höheren Lebensalter. Darüber sollten alle, besonders Familienangehörige, Fachkräfte und auch Betroffen, mehr wissen.
1. Epidemiologische Lage
In Deutschland sterben jährlich etwa 9.500 Menschen durch Suizid. Zuletzt wieder mit steigender Tendenz. Rund 75 Prozent davon sind Männer. Die Suizidrate bei Männern liegt bei etwa 13 pro 100.000 Einwohnern. Während Frauen häufiger Suizidversuche unternehmen, sterben Männer häufiger durch vollendete Suizide. Dies liegt unter anderem an der Wahl der Mittel: Männer wählen überwiegend „harte Methoden“ wie Erhängen (ca. 40 %), Sturz aus der Höhe oder Schusswaffen, während Frauen eher zu „weichen Methoden“ wie Medikamentenvergiftungen greifen. Männer sprechen auch seltener offen über ihre Suizidgedanken und -absichten. Auch steigt die Suizidrate mit dem Alter deutlich an – besonders hoch ist sie bei Männern über 75 Jahren. All dies ist schon lange bekannt, aber gesamtgesellschaftlich ist dagegen wenig getan worden. Müssen erst Ereignisse wieder Suizidversuch des prominenten Unternehmers die Öffentlichkeit wachrütteln? Es scheint so.
2. Was bedeutet Suizidalität?
Suizidalität ist ein Sammelbegriff für Gedanken, Pläne, Drohungen und Handlungen, die auf die Beendigung des eigenen Lebens zielen. Sie reicht von passiven Todeswünschen bis hin zu konkreten Suizidplänen und -versuchen. Suizidgedanken treten häufig im Kontext von Depressionen, Suchterkrankungen, chronischen Schmerzen oder psychotischen Zuständen auf. Ein interventionsbedürftiges Suizidrisiko besteht aus stabilen, aus Persönlichkeit und Biographie herrührenden und dynamischen, akuten Faktoren. Bei Suizidalität im höheren Alter liegen oft chronische Schmerz- und Depressionsprobleme vor. Oft ist der vorhergehende Tod des Partners und das Gefühl der Aussichts- und Hoffnungslosigkeit für die Akutheit der Suizidalität besonders relevant. Männer gehen in solchen Phasen eher in den Rückzug, haben weniger enge Vertraute und Freunde, denen gegenüber sie sich öffnen. Oft aus Scham- und Minderwertigkeitsgefühlen. Sie glauben, die auftretenden suizidalen Gedanken mit sich alleine ausmachen zu müssen. Nur so können sie das Bild der Stärke vor sich selbst aufrechterhalten. Ein gefährlicher und oft tödlicher Trugschluss.
3. Der suizidale Modus
Der sogenannte „suizidale Modus“ beschreibt einen psychischen Zustand, in dem sich Denken, Emotion und Handlung zunehmend auf die Idee des eigenen Todes fokussieren und für einen Menschen zur Obsession werden können. Der Suizid wird dann zum Anziehungs- und Erlösungspol für alle unüberwindlich erscheinenden Probleme. Das Baseline-Risiko für den Suizid entsteht aus individuellen Lebensbedingungen, Traumata, Persönlichkeitsmerkmalen oder früheren Suizidversuchen. Akute Krisen – wie Arbeitsplatzverlust, Tod einer nahestehenden Person, Trennung oder Krankheit – wirken dann als Auslöser und Verstärker des Grundrisikos. Typische Verläufe beinhalten Rückzug, emotionale Verflachung, Verlust des Zukunftsbezugs und ein tiefes Gefühl von Hoffnungslosigkeit. In Momenten von Einsamkeit und Verzweiflung verfallen gefährdete Männer immer wieder in den suizidalen Modus, der dann wie in einem Tunnel immer tiefer in suizidale Gedanken und schließlich Handlungen führen kann.
4. Männliche Sozialisation als Risikofaktor
Viele Männer wurden in einem Rollenverständnis sozialisiert, das emotionale Offenheit als Schwäche wertet. Die Fähigkeit, Gefühle zu erkennen und auszudrücken, ist häufig unterentwickelt. Männer drücken emotionale Krisen eher durch Rückzug, Ärger, Substanzgebrauch oder körperliche Symptome aus – weniger durch direkte Klagen oder Hilferufe. Sie haben oft den Eindruck, sie würden bei emotionaler Öffnung anderen zur Last fallen. Wenn sie dann in den Medien immer wieder negativ und als toxisch dargestellt werden, führt dies dazu, dass Männer sich weiter verschließen und zurückziehen. Das erschwert es Angehörigen und Fachpersonen, Warnzeichen rechtzeitig zu erkennen.
5. Alter, Einsamkeit und Verlust von Rollen
Im Alter erleben viele Männer tiefgreifende Verluste: Der Wegfall beruflicher Aufgaben, die Reduktion sozialer Kontakte, körperliche Beschwerden und der Verlust von Angehörigen führen zu dem Gefühl der zunehmenden eigenen Bedeutungslosigkeit. Gerade alleinstehende, kinderlose oder verwitwete Männer berichten häufiger von tiefster Einsamkeit, die sie zu dauerhafter Verzweiflung führt. Auch wenn der Kontakt zu den erwachsenen Kindern abgebrochen ist, kann es zu tiefer Einsamkeit und Suizidalität kommen. Der Verlust früherer Rollen und Positionen in Anbetracht einer wenig aussichtsreich erscheinenden Zukunft führen immer wieder zum Bilanzsuizid. Gemeint ist damit, dass beim Bilanzieren der Zukunft subjektiv der Suizid als bester Weg erscheint. All dies ist jedoch oft Ergebnis einer übermäßig auf alte Rollenmuster und negative Gefühle fixierten Selbstsicht. Das Ideal männlicher Selbstständigkeit kollidiert in solchen Situationen mit den realen Anforderungen im Alter, etwa Abhängigkeit von Pflege, Hilfe im Alltag oder institutioneller Versorgung. Die Anpassung an veränderte Rollenmuster im Alter stellt dabei eine besonders schwierige Hürde dar.
6. Tabuisierung und Medienwirkung
Betroffenen fällt es zu Recht schwer, über ihre suizidalen Gedanken zu sprechen. Denn diese galten lange Zeit als verwerflich, vor allem aus religiösen Gründen. Suizidalität wird in der Gesellschaft immer noch stark tabuisiert. Besonders viele Männer empfinden Scham, über ihre seelische Not zu sprechen. Medienberichte können nachweislich Nachahmungseffekte erzeugen („Werther-Effekt“), aber auch präventiv wirken, wenn sie sachlich und verantwortungsvoll berichten („Papageno-Effekt“). Die mediale Thematisierung männlicher Suizide birgt Risiken, aber auch Chancen zur Entstigmatisierung. Die Offenheit und der Mut des Unternehmers Wolfgang Grupp sind ein wichtiger Meilenstein beim Abbau des Tabus „Suizidalität“. Über ältere Männer mit Depression und Suizidgefahr muss geredet werden, damit Hilfen geschehen können.
7. Männer, die nicht mehr leben wollen: Was kann präventiv getan werden?
Effektive Prävention setzt an mehreren Ebenen an:
Ein offenes Ansprechen von Suizidalität sollte möglich sein, auch und gerade mit anonymen, niedrigschwelligen Diensten wie der Telefonseelsorge (0800-1110111 oder 0800-1110222), die 24/7 erreichbar ist. Zusätzlich sollten mehr männerspezifische Hilfeangebote (z. B. digitale Formate, Gruppenangebote) entwickelt werden, die schon weit im Vorfeld mit Aufklärung, Beratung und Unterstützung präsent sind. Diese männergerechten Angebote sollten niedrigschwellig, handlungsorientiert und immer respektvoll auf Augenhöhe arbeiten.
Besonders im hausärztlichen Kontakt sollte bei älteren Männern die Frage nach Depressivität und Suizidalität Routine werden. Dann können passgenaue Hilfen folgen. Das proaktive Ansprechen von Suizidgedanken – ruhig, respektvoll und direkt – kann für Betroffene erlösend wirken.
Bei Jungen und Männern sollte ganz allgemein die Selbstakzeptanz im Hinblick auf problematische Emotionen und Selbstwertkrisen gestärkt werden. Sie brauchen die Möglichkeit zur Auseinandersetzung mit Sinn- und Existenzkrisen, ohne auf Negativität und Abwertung zu stoßen. Die Entwicklung von Programmen zur emotionalen Bildung und Selbstreflexion schon im Jugendalter ist ein wichtiger Baustein, speziell für heranwachsende Männer.
Da die gegenwärtige Welt vielen immer sinnentleerter erscheint, sollten spirituelle Orientierung und Angebote in breiter Form, auch außerhalb der etablierten Kirchen, gegeben werden. Der bekannte österreichische Psychotherapeut Viktor Frankl hat nach Jahren im KZ die humanistische Logotherapie entwickelt, die auf heutige Fragen nach Lebenssinn und persönlichem Lebensweg Antworten geben kann. Solche Angebote sollten nicht nur in der Psychotherapie breit vorhanden sein, sondern auch schon im Bildungs- und Präventionsbereich ihren festen Platz finden. Sie sind wichtige Ressourcen für das Leben im 21. Jahrhundert.
Männer müssen nicht stumm bleiben
Die hohe Suizidalität bei Männern ist kein individuelles Versagen, sondern ein gesellschaftliches Problem. Es braucht eine Kultur, die männliche Verletzlichkeit anerkennt und geschützte Gesprächsräume öffnet – in der Familie, in der Gemeinde, in der Medizin. Suizid ist fast nie Ausdruck eines „freien Willens“, sondern Ergebnis eines komplexen Zusammenspiels aus Krisen, Sprachlosigkeit und fehlender Hilfe. Wer lernen darf, über seine Not zu sprechen, braucht den Tod meist nicht als letzten Ausweg.
Suizidprävention bei Männern ist eine komplexe Herausforderung, die sowohl individuelle, gesellschaftliche als auch strukturelle Faktoren berücksichtigen muss. Sie beginnt lange vor der akuten Krise – mit der Frage, wie Männer sozialisiert wurden, wie sie über sich selbst sprechen können und welche Unterstützungsangebote ihnen zur Verfügung stehen.
Forschungen des britischen „Centre for Male Psychology“ zeigen: Männer profitieren besonders von Interventionsformen, die auf Handlung, Sinn und Autonomie fokussieren. Der britische Psychologe Dr. John Barry betont, dass viele Männer einen lösungsorientierten Zugang zu seelischen Problemen bevorzugen. Gesprächsformate, die diese Haltung aufnehmen – etwa durch Coaching-Ansätze oder zielgerichtete Kurzzeitinterventionen –, können effektiver sein als klassisch emotionsfokussierte Methoden. Ein weiterer zentraler Befund der männerpsychologischen Forschung: Männer öffnen sich emotional häufiger in Kontexten, in denen sie sich als gleichwertig, respektiert und handlungsfähig erleben können. Gruppenangebote, handlungsorientierte Therapieformen (z. B. Sport, Naturpädagogik, kreative Medien) und männliche Vorbilder in der Beratungsarbeit können hier Brücken bauen.
Suizidalität bei Männern ist nicht allein ein medizinisches Thema – sie ist eine Frage männlicher Lebensführung, emotionaler Sozialisation und kultureller Anerkennung. Je mehr Männer erleben, dass ihre Krisen gehört, verstanden und angenommen werden, desto größer wird die Chance, dass sie andere Wege gehen als den gefährlichen des Verstummens und völligen inneren Rückzugs.
Neue Männlichkeiten – neue Chancen?
Gleichzeitig entstehen in vielen gesellschaftlichen Bereichen neue, vielfältigere Männerbilder: fürsorglich, verletzlich, reflektiert, sanftmütig, dabei auch selbstbewusst und zielstrebig. Diese alternativen Männlichkeitsentwürfe bieten wichtige Orientierungsräume – insbesondere für Männer, die mit Rollenkonflikten, Lebensumbrüchen oder psychischen Belastungen ringen. Die Suizidprävention kann hier ansetzen: durch die Sichtbarmachung emotional zugänglicher männlicher Vorbilder, durch geschlechtersensible Kommunikation und durch die Vermittlung, dass emotionale Offenheit keine Schwäche ist, sondern eine Stärke. Eine zukunftsgerichtete Suizidprävention bei Männern braucht also auch eine kritische Auseinandersetzung mit den kulturellen und sozialen Leitbildern von Männlichkeit gestern, heute und morgen. Nur wenn Männerbilder erweitert und differenziert werden, können neue Wege des Umgangs mit seelischer Not entstehen – und damit Wege, die Lebensleistung älterer Männer anerkennen und dabei Leben retten.
Key Words: Suizidalität, Suizid, Suizidversuch, Suizidologie, ältere Männer, Einsamkeit, Wolfgang Grupp, Suizidprävention, Depression, Sucht
Autor: Prof. Dr. Michael Klein (Köln), Klinischer Psychologe und Psychologischer Psychotherapeut. Spezialisiert auf Männerpsychologie und Suizidologie. Langjährig in der Telefonseelsorge tätig.
Mehr zu Prof. Dr. Michael Klein siehe https://manndat.de/maennergesundheit/interview-mit-prof-michael-klein-von-https-mens-mental-health-de.html
Quelle Beitragsbild: AdobeStock_831356995
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