Der faule WDR oder wie „Qualitätsjournalismus“ Fake News liefert

von Dr. Bruno Köhler
Tageszeitung mit Fake News. MANNdat thematisiert Falschmeldungen zur Geschlechterpolitik.

fotolia.com ©pixelrobot
Egal ob der Irakkrieg oder die Präsidentenwahl: Fake News, Falschmeldungen, gibt es zu allen Themen.

Gemäß dem Meinungsforschungsinstituts TNS Emnid glauben 60 %, dass Medien vorgegeben wird, worüber und auf welche Art sie berichten sollen. Gibt es auch Fake News zur Geschlechterpolitik, der Gleichstellung und den Benachteiligungen von Männer und Frauen?

Die Journalistin Annika Franck versucht in einem Beitrag des WDR zu erklären, weshalb Jungen die Bildungsverlierer sind. Der Beitrag enthält aber jede Menge Falschaussagen (auf neudeutsch Fake News). Er ist ein Beispiel, wie der „Qualitätsjournalismus“, der uns angeblich vor Fake News schützen soll, selbst Fake News produziert. Und er ist ein Beispiel dafür, wie wichtig Internetseiten als Ergänzung zum „Qualitätsjournalismus“ sind.

Lucas Schoppe ergründet auf seinem Blog man tau mit dem Beitrag „Der WDR und sein Hass auf Jungen“, ob es sich bei dem Beitrag um eine Hassrede (Hate Speech) handelt. Ausgangspunkt ist ein WDR-Beitrag „Kleine Helden in Not“, mit dem uns die Journalistin Annika Franck zu erklären versucht, weshalb Jungen die Bildungsverlierer sind. Frau Franck bezieht sich dabei auf Aussagen von Herrn Prof. Helbig.

Der Beitrag ist in Gänze lesenswert. Der WDR-Beitrag enthält aber so viele Falschaussagen (auf neudeutsch Fake News), dass auch wir hier nochmals in Ergänzung zu Schoppes Beitrag darauf eingehen möchten. Er ist ein Beispiel, wie uns der „Qualitätsjournalismus“, der uns angeblich vor Fake News schützen soll, selbst Fake News produziert. Und er ist ein Beispiel dafür, wie wichtig Internetseiten als Ergänzung zum „Qualitätsjournalismus“ sind. Vielleicht auch ein Grund, weshalb die Politik die Informationen aus dem Internet zunehmend verteufelt?

Fragliche Rahmenbedingungen

Zuerst fällt natürlich auf, dass die Journalistin des WDR keinen Pädagogen interviewt, sondern eine andere Journalistin. Anstatt Fachleute vor das Mikrophon zu holen, wird eine Kollegin interviewt, die aus zweiter Hand berichtet. Das ist unprofessionell.

Das ist umso fraglicher, wenn man bedenkt, dass nur wenige Minuten vom WDR-Studio Frau Prof. Christine Garbe an der Universität Köln tätig ist, eine der renommiertesten Fachleute zur geschlechterspezifischen Leseförderung. Von dort hätte der WDR aus erster Hand Fakten zur Bildungsproblematik von Jungen erfahren können.

Und wenn der WDR Frau Franck als Spezialistin bezüglich Jungenpädagogik auserkoren hat, dann muss Frau Franck als Journalistin zwar kein ausgeprägtes Fachwissen in allen Themenbereichen haben. Das verlangt niemand von ihr. Von einer Journalistin, die sich als Spezialistin in dem Thema inszeniert, ist allerdings zu erwarten, dass sie ausgiebig und objektiv zu diesem Thema recherchiert. Das hat Frau Franck offensichtlich nicht getan. Sie greift offenbar lediglich auf Helbig zurück (den sie als einzigen Wissenschaftler im Interview benennt), der bekannt ist für seine Jungen abwertenden Thesen. Dabei gibt es neben der oben genannten Frau Prof. Garbe eine weitere große Anzahl seriöser Wissenschaftler, die sich mit dem Gender Education Gap zuungunsten der Jungen wissenschaftlich auseinandergesetzt haben, wie z. B. Herr Prof. Meier, Herr Prof. Guggenbühl, Herr Prof. Tischner, Herr Dr. Matzner, Frau Prof. Diefenbach und viele weitere.

Doch kommen wir nun zu den Fake News.

Fake News 1 – Faulheit der Jungs ist schuld an ihrer schlechteren Bildungssituation

Die Kernaussage der „Qualitätsjournalistin“ Annika Franck lautet, dass Jungen faul sind und deshalb die schlechteren Bildungsabschlüsse haben.

Unabhängig davon, dass eine solch herabwürdigende Aussage in dieser pauschalisierenden Form natürlich sexistisch jungenfeindlich und damit diskriminierend ist, ist sie auch schlichtweg falsch. So zeigen z. B. Vorschuluntersuchungen, dass Jungen im Bereich Sprachfähigkeit, Artikulation und Motorik signifikant häufiger Defizite aufweisen als Mädchen. D. h., Jungen haben beim Start in die Schullaufbahn schon deutlich schlechtere Grundvoraussetzungen bei wichtigen schulischen Grundkompetenzen.

Grafik Medizinische Befunde der Schulanfänger Baden-Württemberg 2005: Jungen starten bereits mit Benachteiligungen in den Schulalltag.

Anteil der Kinder mit ärztlichen Defizitbefunden bei Schulanfängern in Baden-Württemberg im Jahr 2005; (Legende: Sprachfähigkeit; Artikulationsvermögen; Grafomotorik; Visuomotorik; Grobmotorik).

Zudem hat eine Vielzahl von Studien bewiesen, dass Jungen bei gleichen Schulleistungen schlechtere Noten als Mädchen erhalten. Beispiele für solche Studien sind

  • Hamburger LAU-Studie 1996; S. 47ff.
  • Diefenbach, Heike (2007). Die schulische Bildung von Jungen und jungen Männern in Deutschland. In: Hollstein, Walter & Matzner, Michael (Hrsg.). Soziale Arbeit mit Jungen und Männern. München: Reinhardt, S.101-115.
  • Maaz, Kai, Baeriswyl, Franz & Trautwein, Ulrich (2011). Herkunft zensiert? Leistungsdiagnostik und soziale Ungleichheit in der Schule. Eine Studie im Auftrag der Vodafone Stiftung Deutschland.
  • Ignoranz in Deutschland 2012: Der neue Bildungsbericht auf sciencefiles.org

Lucas Schoppe geht in seinem Beitrag nochmals näher darauf ein. Hier liegt eine eindeutige geschlechterspezifische Diskriminierung vor, wie sie es nach Artikel 3 des Grundgesetzes nicht geben dürfte. Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes, der wir diese Diskriminierung schon zweimal vorgelegt haben, sieht sich für Jungen und Bildung nicht zuständig. Eine sehr seltsame Meinung, wird Diskriminierung im Bereich der Bildung im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) sogar ausdrücklich genannt. Und dass ein solches Gesetz für Jungen nicht gelten soll, ist nicht nachvollziehbar.

Eine Erhebung aus 2012 ergab weiterhin, dass etwa 100 reinen Mädchen-MINT-Förderprojekten gerade einmal vier Jungenleseförderprojekte zur Seite standen. Und von diesen vier Projekten war nur ein einiges von einem Ministerium initiiert und das waren zwei Flyer zur Jungenleseförderung aus Sachsen, einen für Lehrer, einen für Eltern. Das ist alles. Zwei Flyer ist alles, was 34 Bildungs- und Jugendministerien in Deutschland 17 Jahre, nachdem die erste PISA-Studie 2000 Jungenleseförderung als wichtigste bildungspolitische Herausforderung proklamierte, zustande gebracht hat. Jungen wird also weitaus weniger Unterstützung und Förderung zuteil als Mädchen.

Grafik Geschlechterspezifische Bildungsprojekte: trotz schlechterer Schulleistungen der Jungen gibt es fast keine Bildungsprojekte. Diese sind Mädchen vorbehalten.

Deutschland = Maßnahmen der Bundesregierung Gut 100 Mädchen-MINT-Projekten stehen gerade einmal vier Jungenleseförderprojekte gegenüber. Der WDR-Qualitätsjournalismus kann außer der Faulheit der Jungen keinerlei Anhaltspunkte finden, weshalb sie in der Schule gegenüber Mädchen zurückbleiben.

Die Konsequenz liegt auf der Hand. Die ohnehin schon im Jahr 2000 vorhandenen großen geschlechterspezifischen Lesekompetenzunterschiede zuungunsten der Jungen haben sich noch vergrößert und liegen mittlerweile bei über einem Schuljahr Rückstand. 17 Jahre sind zu lang, als dass man behaupten könne, das braucht noch seine Zeit, bis es bei der Politik ankommt und die etwas unternimmt. Die Politik unternimmt nichts, um den Gender Reading Gap zu beseitigen, weil sie nichts unternehmen will.

Übrigens: Die Mathematik-Schulleistungsstudie TIMSS hat 2016 festgestellt, dass die Mathematik-Kompetenz der Mädchen nicht wesentlich zugenommen hat, die Mathematik-Kompetenz der Jungen sich jedoch wesentlich verschlechtert hat. Eine Folge davon, dass in Mathematik nicht Schüler nach individuellem Förderbedarf gefördert werden, sondern ausschließlich Mädchen?

Eine Studie der Universität Bremen zeigte 2007, also sieben Jahre nach der ersten PISA-Studie, immer noch die alten Stereotypen der 80er Jahre an den Schulen. Befragungen unter den Lehrkräften ergaben mehrheitlich Aussagen wie:

Ich denke, dass feministische Bemühungen immer noch in der Schule notwendig sind, zum Beispiel wichtig, um Mädchen an der Schule zu kräftigen, um Auswüchse bei den Jungen im Zaum zu halten (…).

oder

Jungen brauchen Grenzen und Mädchen brauchen Förderung. Wenn ich da so stille Mädchen habe, dann nehme ich die dran, ich fordere sie, ich hole die Leistung aus denen raus, denn ich weiß, sie haben die Leistungsfähigkeit. So dass ich den Jungen da eher einen drauf gebe, (…).

Lediglich ein Lehrer sprach sich für Jungenförderung aus.[1]

Diese Fakten erwähnt Frau Franck nicht. Selbst wenn „Faulheit“ einer der Gründe für die schlechtere Bildungssituation wäre, wäre es nicht der einzige. Weitere Gründe sind, wie oben dargelegt, zumindest

  • Benachteiligung von Jungs in der Förderung
  • Mädchenförderung und Jungensanktionierung als „gendergerechte“ Schule
  • Diskriminierung durch schlechtere Noten bei gleichen schulischen Leistungen
  • Entwicklungsrückstände in wichtigen schulischen Grundkompetenzen beim Eintritt in die Schullaufbahn

Fake News 2 – Alle Studien haben gezeigt, dass das Geschlecht der Lehrkräfte keinen Einfluss auf die Bildungsleistung der Jungen hätte

Diese Aussage ist schlichtweg falsch. Das ist nämlich noch gar nicht abschließend geklärt. Es gibt Studien, die zeigen, dass das Geschlecht keinen Einfluss hätte, aber es gibt auch Studien, die zeigen, dass das Gegenteil der Fall ist. Ein Beispiel für eine solche Studie ist die Studie „Bringing boys back in“ von Frau Prof. Heike Diefenbach und Michael Klein, die schon 2002 gezeigt hat, dass Jungen im deutschen Bildungssystem gegenüber Mädchen Nachteile haben, dass die Nachteile von Jungen konsistent in allen Bundesländern vorhanden sind und die Nachteile von Jungen im deutschen Bildungssystem vom Anteil männlicher Grundschullehrer und von der Arbeitslosenquote beeinflusst werden: Je geringer der Anteil männlicher Grundschullehrer und je höher die Arbeitslosenquote in einem Bundesland ist, desto schlechter schneiden Jungen im Vergleich zu Mädchen im Hinblick auf ihre Sekundarschulabschlüsse ab. Die Ursachen dafür sind noch nicht geklärt. Und sie werden auch nicht geklärt, weil nach Political Correctness nicht sein kann, was nicht sein darf.

Außerdem widerspricht sich Frau Franck darin. So behauptet sie, männliche Vorbilder seinen durchaus wichtig für Jungs. Das relativiert sie allerdings auch gleich wieder, da männliche Lehrer in Grundschulen vorwiegen Technik und Sport machen würden, was die Rollenklischees kolportiert. Dass umgekehrt weibliche Lehrerinnen dann vorwiegend Sprachen und Kunst unterrichten und so ebenfalls Rollenklischees verbreiten, stört Frau Franck offenbar nicht.

Fake News 3 – Die „Faulheit“ der Jungen wirkt sich auf berufliche Karriere nicht aus.

Die schlechteren Bildungsleistungen, die Jungen, nach Meinung des WDR-Qualitätsjournalismus, direkt mit ihrer „Faulheit“ korreliere, würden sich nicht negativ auf die berufliche Karriere der Jungen auswirken. Auch das ist definitiv falsch. Diese Falschbehauptung ist sogar besonders problematisch, weil sie Eltern dazu motiviert, ihre Jungen nicht zu unterstützen, was ein fataler Fehler wäre. Denn je schlechter der Bildungsabschluss, desto höher die Wahrscheinlichkeit, später arbeitslos zu werden.

Jungen, die im Bildungssystem scheitern, werden also keine tollen Berufe bekommen, wie dies Frau Franck suggeriert, sondern eher arbeitslos auf der Straße landen.

Die Arbeitslosenrate steigt mit schlechterem Bildungsabschluss

Je geringer der Bildungsabschluss, desto höher die Wahrscheinlichkeit, arbeitslos zu werden. Der WDR suggeriert jedoch, die Bildungssituation der Jungen hätte keinen Einfluss auf deren berufliche Karriere.

Die männlichen Jugendarbeitslosenquoten sind übrigens deutlich höher als die weiblichen. Männer überwiegen nicht nur bei den hochbezahlten Topmanagerposten, sondern auch bei den Arbeitslosen und Obdachlosen. Ein Faktum, das Frau Franck offenbar verborgen geblieben ist.

Keine Fake News, aber eine Halbwahrheit – Das Geld ist schuld

„Auch halbe Wahrheiten sind ganze Lügen“, sagt ein Sprichwort. Tatsache ist, dass es mehr männliche Gymnasiallehrer als männliche Grundschullehrer gibt. Was Frau Franck vergisst zu erwähnen, ist, dass mittlerweile auch im Gymnasialbereich der Frauenanteil deutlich höher ist als der Männeranteil, Tendenz steigend. Laut DESTATIS gab es 2014/15 einen Frauenanteil von 58,4 % bei den gymnasialen Lehrkräften. Hier haben wir ebenfalls den Trend hin zum reinen Frauenberuf.

„Motivation“ statt „faul“

Frau Franck hätte anstatt „faul“ den wissenschaftlichen Begriff der Motivation wählen können. Thematisiert man die Motivation, drängt sich fast automatisch die Frage auf, warum Jungen insgesamt gesehen für das Lernen weniger motiviert sind als Mädchen. Es gibt unterschiedliche Gründe, weshalb eine Person nicht oder zu wenig Antrieb für eine vorgegebene Tätigkeit hat, z. B.

  • die vorgegebene Tätigkeit wird als zu wenig attraktiv in der gegebenen Situation gesehen (Motivationspsychologie)
  • die vorgegebene Tätigkeit wird als zu wenig erfolgversprechend gesehen oder wird gar mit Misserfolg verbunden (Lerntheorie
  • die vorgegebene Tätigkeit verspricht, eine missliche Situation erfahrungsgemäß nicht zu verändern (Persönlichkeitspsychologie)

Wenn man den Begriff der Motivation verwendet, ergibt sich bei einer mangelnden Motivation eines Kindes immer auch die Frage, was Außenstehende tun können, um die Motivation des Kindes positiv zu beeinflussen. Die Aufgabe von Pädagogen und der Eltern besteht darin, die Situation zu verändern, die zur Untätigkeit des Kindes führt, z. B. durch Absprachen, Gespräche, Eröffnen eines Perspektivwechsels, neue und/oder andere Anreize usw. Manchmal liegen Hintergründe für die Untätigkeit auch in der Vergangenheit verborgen.

Gibt es Belege für den Zusammenhang zwischen Leistung und Motivation bei Jungs in der Schule?

Ja, die gibt es. Die gibt es schon seit der ersten PISA-Studie 2000. Schon damals hat sich gezeigt, dass die Leseleistung von Jungen stark von ihrer Motivation zum Lesen abhängt. Das hätte der WDR von Frau Prof. Gabe aus Köln aus erster Hand erfahren können. Deshalb ist es ein wichtiger Ansatz, Jungen mit Literatur zum Lesen zu motivieren, die ihren Leseinteressen entspricht. Ein Ansatz, der lange bekannt ist und ebenso lange von den bildungspolitisch Verantwortlichen ignoriert wird. MANNdat hat mit www.jungenleseliste.de übrigens das erste bundesweite Jungenleseförderprojekt ins Leben gerufen.

Bei der Mädchen-MINT-Förderung ist ein solcher Ansatz übrigens Gang und Gäbe. Da heißt es nicht einfach „Mädchen sind halt zu faul“. Da bemüht man sich, Mädchen stärker für MINT (Mathematik, IT, Naturwissenschaften, Technik) zu motivieren. Übrigens haben die Genderideologen dabei keinerlei Skrupel, in die Mottenkiste weiblicher Klischees zu greifen. Da werden bei solchen Projekten z. B. Schminkpasten für Mädchen entworfen oder Nagellackentferner hergestellt. Übrigens ein Beleg, dass Doppelmoral ein Synonym für Genderpolitik ist.

Die verlogene Rollenbilddiskussion

Die Gleichstellungpolitik, die bei jeder Minimalabweichung der 50 %-Quote zuungunsten der Frauen oder Mädchen eine Diskriminierung sieht, die massiv bekämpft werden muss, endet exakt an dem Punkt, an dem Jungen und Männer die schlechteren Quoten haben. Jahrelang hat man Jungen vorgeworfen, ausschließlich leistungsorientiert zu sein und jetzt, da man sich vor Jungenförderung drücken möchte, behauptet man einfach das Gegenteil.

Die gleichen Genderideologen, die uns tagtäglich vorbeten, Geschlechterrollen seien kulturell geprägt, machen bei Jungen eine 180°-Wende. Bei den Bildungsproblemen der Jungen sollen Umwelt, Elternhaus, Schule, Kindergarten, Medien plötzlich überhaupt keinerlei Einfluss auf ihr Rollenbild haben.

Rollenbildreflexion ist durchaus wichtig, für Frauen wie für Männer. Aber sie ist geprägt von Doppelmoral. Spätestens seit der Legalisierung von Körperverletzung an Jungen durch Beschneidung im Jahr 2013 ist klar, dass es nicht die Jungen sind, sondern die Erwachsenen und vor allem die politisch Verantwortlichen, die immer noch im archaischen Rollenbilddenken verhaftet sind. Sie sind es, die bei Jungen immer noch mehr Gewalt tolerieren und ihnen weniger Hilfe als Mädchen zugestehen, weil ihnen dies zu unmännlich wäre.

Warum ist die „Jungen sind selber schuld“-These so beliebt?

Die „Jungen sind selber schuld“-These ist seit jeher natürlich in den Medien und der Politik außerordentlich beliebt, weil sie den Verantwortlichen aus Politik, Bildung, Gesellschaft und Medien von ihrer Schuld, nichts für Jungen getan, sondern sie einfach im Bildungswesen zurückgelassen zu haben, vermeintlich die Absolution erteilt. Und die Jungs können sich ohnehin nicht wehren. Es ist eine ebenso bequeme wie billige Ausrede der Verantwortlichen für ihr Nichtstun, obwohl spätestens die erste PISA-Studie 2000 vor 16 Jahren Jungenleseförderung als eine der wichtigsten bildungspolitischen Herausforderungen proklamierte.

Frau Franck ist nicht die erste oder einzige, die Jungen als faul bezeichnet. Das hat schon 1994 die Grünen-Politikerin Claudia Pinl getan.

Franck sitzt mit ihrer These sogar im gleichen Boot wie Bundeskanzlerin Merkel. Dabei stellte die CDU als Oppositionspartei noch im Mai 2004 eine kleine Anfrage mit dem Titel „Verbesserung der Zukunftsperspektiven für Jungen“ (BT-Drs. 15/3516). Nach Meinung der CDU zeigte die Antwort der damaligen rot-grünen Bundesregierung (BT-Drs. 15/3607),

dass die Bundesregierung kein Gesamtkonzept zur geschlechtsspezifischen Förderung der Jungen hat.

Deshalb versprach die CDU,

die Jungen mit gezielter Förderung aus dem Abseits zu holen.

Die CDU stünde „in den Startlöchern, um nach der Regierungsübernahme [ihre] Ideen endlich umsetzen zu können.“ [2] Zwei Jahre später wollte Merkel, nun an der Macht, nichts mehr davon wissen. Stattdessen ließ sie die Bürger, die nun endlich das Wahlversprechen zur Jungenförderung umgesetzt sehen wollen, abblitzen, in dem sie in ihrem Namen verkünden ließ:

Tatsächlich ist Gleichberechtigung an den Schulen Realität, weshalb Mädchen aufgrund ihres Entwicklungsvorsprungs, größeren Fleißes und höherer Lernmotivation im Vorteil sind. Eine gezielte Jungenförderung ist allerdings keine Lösung.

Merkel lässt hier übrigens die mittelbare Variante von „Jungen sind fauler“ in ihrem Namen benutzen (mittelbar bedeutet, dass, wenn man Gruppe A mit einer Gruppe B vergleicht und sagt, A sei fleißiger, man damit suggeriert, B sei fauler).

Gleichberechtigung ist übrigens an den Schulen eben keine Realität, wie Merkel behaupten lässt. Das haben wir oben gezeigt.

Bildungsbenachteiligung als Frauenfördermittel

Kein Land, deren Politiker dauernd wegen eines angeblichen Fachkräftemangels klagen, würde die männliche Hälfte der Kinder im Bildungswesen dermaßen bereitwillig zurücklassen, wenn es keine Gründe hätte. Das Deutsche Jugendinstitut meinte dazu schon vor über zehn Jahren:

Im Juli 2003 bestreitet Waltraut Cornelißen, Leiterin der Abteilung Geschlechterforschung und Frauenpolitik am Deutschen Jugendinstitut in München, in der Frankfurter Rundschau keineswegs, dass ‚das Vokabular von Lehrerinnen mit dem der Jungen weniger korrespondiert als mit dem der Mädchen’ und die ‚Feminisierung’ durchaus ‚die sprachliche Entwicklung von Jungen hemmen’ könne. Doch unter Berücksichtigung aller Fakten auch auf Seiten der Mädchen wägt sie sozusagen geschlechterpolitisch ab: Ein Bildungsvorsprung ‚sei für junge Frauen vorläufig oft bitter notwendig, um auch nur annähernd gleiche Chancen im Beruf zu haben.[3]

Unabhängig davon, ob der geringe männliche Lehreranteil Jungen tatsächlich benachteiligt, was bis heute kontrovers diskutiert wird (siehe oben), ist für uns hier von Interesse, dass die Benachteiligung von Jungen als legitimes Frauenfrauenfördermittel billigend in Kauf genommen wird.

Das zunehmende geschlechterspezifische Bildungsgefälle zuungunsten von Jungen und Männern wird in einem Land, in dem Bildung der wichtigste volkswirtschaftliche Faktor darstellt, nicht als Problem wahrgenommen oder gar als Handlungsaufforderung aufgefasst, sondern es wird ausschließlich als positive, ja sogar erfreuliche, mit unverhohlener Häme kommentierte Rückmeldung einer einseitigen Geschlechterpolitik aufgefasst, die sich bis heute ausschließlich auf die „Frauenfrage“ beschränkt.

Pragmatisch gesehen ist natürlich jeder Junge, der im Bildungssystem scheitert und arbeitslos auf der Straße landet, ein Gewinn für die Frauenquote. Die ehemalige Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen brachte dies schon 2009 auf den Punkt, indem sie die hohe Männerarbeitslosigkeit wie folgt kommentierte:

Von 227.000 Menschen, die im vergangenen Krisenjahr ihren Job verloren, waren nur 10.000 Frauen. Arbeit wird weiblicher, bunter, älter.

Positiver hat die Führung des Bundesarbeitsministeriums (männliche) Arbeitslosigkeit wohl noch nie gesehen.

Die bildungspolitisch Verantwortlichen schenken Jungen nicht nur weniger Aufmerksamkeit und Unterstützung als Mädchen. Sie suggerieren vielmehr durch ihre mangelnde Empathie gegenüber Jungen und ihre Marginalisierung des Gender Education Gaps, dass die Nachteile von Jungen im Bildungswesen aufgrund deren biologischen Minderwertigkeit gegeben wären.

Tatsächlich behaupten politisch Verantwortliche mittlerweile sogar öffentlich eine solche gegebene natürliche Minderwertigkeit von Jungen gegenüber Mädchen. So meinte Jürgen Trittin (Die Grünen) z. B. in der Bundestagsdebatte vom Freitag, den 9. November 2012, Jungen seien das unbegabtere Geschlecht. Selbst wenn wir Trittins geringere Begabung nicht bestreiten wollen, sollte er nicht von sich auf andere schließen.

Wenn Frau Franck also unbedingt das Bedürfnis hat, jemanden „faul“ zu nennen, dann die politisch Verantwortlichen, die unmotiviert sind, Jungen zu fördern oder den WDR, der unmotiviert ist, ein Thema objektiv umfassend zu recherchieren.

Wir machen eine Schule nur für Mädchen, und Jungs sagen wir, sie sollen sich halt anpassen. Und wenn sie das nicht tun, seien sie selbst schuld. Eine sehr verlogene Form von Chancengleichheitspolitik.

Jungen sind Kinder und was aus Kindern wird, dafür sind wir Erwachsene verantwortlich. Und dieser Verantwortung müssen wir uns stellen und nicht vor ihr davonlaufen.

Quellen
[1] Krämer, Heike: „Gender und Schule“ Hrsg.: Zentrum Gender Studies (ZGS)ZGS Arbeitspapier 2/2007, Universität Bremen, November 2007
[2] Stellungnahme der CDU vom 28. Juli 2005 von Michaela Noll zur MANNdat-Analyse „Männerpolitik der Parteien – eine Analyse“
[3] Neutzling, R. 2005: Besser arm dran als Arm ab. In: Rose, L./Schmauch, U. (Hrsg.): Jungen – die neuen Verlierer? Königstein/Taunus: Ulrike Helmer Verlag, S. 75

Hat Ihnen der Artikel gefallen? Bitte unterstützen Sie unsere Arbeit mit einer Spende.

Lesermeinungen

  1. By Helmut Freisinger

    Antworten

  2. By Helmut Freisinger

    Antworten

  3. By S H

    Antworten

    • By Dr. Bruno Köhler

  4. By Edwin Reichhart

    Antworten

  5. By Helmut Freisinger

    Antworten

    • By Dr. Bruno Köhler

    • By Jenny

    • By Ma'Al

  6. By Helmut Freisinger

    Antworten

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Bitte beachten Sie, dass Kommentare mindestens 5 und höchstens 1500 Zeichen haben dürfen.

Zitate können mit <blockquote> ... </blockquote> gekennzeichnet werden.

Achtung: Wenn Sie einen Kommentar von einem Smartphone verschicken, wird der Text manchmal von der Autofill-Funktion des Smartphones durch die Adresse ersetzt. Wenn Sie den Kommentar absenden, können wir den originalen Text nicht wiederherstellen.

Niemand mag Pop-ups!

Aber immerhin stehe ich nicht mitten auf der Seite. Wenn Sie sich für unseren Newsletter anmelden wollen, tragen Sie sich hier ein. Es lohnt sich!

Ihre Daten sind sicher! Die Email verwenden wir nur für den Newsletter. Sie können sich jederzeit abmelden.