Stellungnahme zum Kölner Beschneidungsurteil

von Dr. Meike Beier, Mario Lichtenheldt (Gastbeiträge)

Ein Gastbeitrag von Dr. Meike Beier und Mario Lichtenheldt für MANNdat
Mario Lichtenheldt arbeitet als Texter, Autor und freier Journalist. Er schreibt Kinderliteratur, Erotik, Rezensionen und Artikel zu geschlechterspezifischen Themen, Tabuthemen, Medizin und Medizinrecht.

Religionen sind zu schonen – um jeden Preis? 10 Thesen und Antithesen

Die Beschneidung von Jungen aus religiösen Motiven ist eine Straftat!

Mit dieser Feststellung hat das Landgericht Köln Ende Juni 2012 eine Welle der Empörung ausgelöst. Der Zentralrat der Juden und muslimische Verbände in Deutschland, ja sogar die eigentlich gar nicht betroffene katholische Kirche sowie unzählige andere Kritiker meldeten sich lautstark zu Wort. Sie beanstandeten ein Urteil, mit dem ein deutsches Gericht nichts mehr und nichts weniger tat, als seit langem geltendes deutsches Recht anzuwenden und durchzusetzen, indem es feststellte, dass

  • es in Deutschland niemandem erlaubt ist, ohne medizinische Indikation ein Kind zu verletzen oder ihm gar einen Körperteil zu entfernen, auch dann nicht, wenn seine Eltern das so wollen und/oder ein religiöser Brauch das traditionell so vorsieht,
  • das Grund- und Menschenrecht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit höher zu bewerten ist als das Recht seiner Eltern oder einer Religionsgemeinschaft auf freie Religionsausübung, zumal dann, wenn diese Religionsausübung dem Kind einen bleibenden Schaden zufügt,
  • Eltern ihr natürliches Erziehungsrecht stets nur ZUM WOHLE des Kindes ausüben dürfen, dass eine medizinisch nicht indizierte Beschneidung grundsätzlich NICHT dem Wohle des Kindes dient und dass dessen Eltern einem solchen Eingriff daher auch nicht wirksam zustimmen können. Für den Arzt oder Beschneider bedeutet das, dass ihn fortan auch eine elterliche Zustimmung nicht mehr vor Strafe schützt.

Ferner stellt das Gericht fest, dass nicht etwa ein Beschneidungsverbot, sondern vielmehr die Beschneidung selbst zu einer Einschränkung der Religionsfreiheit (nämlich der des KINDES) führt, indem ihm ein religiöses Symbol aufgezwungen wird, ohne dass sich das Kind frei für oder gegen eine Religionszugehörigkeit bzw. den Vollzug des entsprechenden Rituals an seinem Körper entscheiden kann. Folgerichtig halten es die Richter daher für zumutbar, wenn Eltern „gehalten sind abzuwarten, ob sich der Knabe später, wenn er mündig ist, selbst für die Beschneidung als sichtbares Zeichen der Zugehörigkeit“ zu seiner Religion entscheidet oder nicht.

Dass die Bekanntgabe des Urteils zu Empörung und Widerspruch seitens der Vertreter der betroffenen Religionen führen würde, war zu erwarten. Es liegt auch in der Natur der Sache, dass sie zur Verteidigung und Quasi-Legalisierung ihres Rituals auf eine starke Vereinfachung und Emotionalisierung setzen und alle möglichen und unmöglichen „Argumente“ heranziehen, auch wenn diese sich außerhalb der tatsächlichen Faktenbasis und des gesunden Menschenverstandes bewegen. Schließlich haben SIE keinerlei Interesse daran und nicht selten außerdem eine psychische Hemmung, sich mit den negativen Seiten der Beschneidung und den stichhaltigen Argumenten der Kritiker zu befassen.

Wohl aber wäre es Aufgabe der FREIEN und NEUTRALEN MEDIEN, das Urteil des Landgerichts Köln und die komplexe und schwierige, aber nichtsdestotrotz wichtige Grundsatzproblematik nicht-therapeutischer Beschneidung von Minderjährigen einer sachlichen Prüfung zu unterziehen, faktenbasiert darzustellen und differenziert zu diskutieren.

Doch leider finden die eher leisen, dafür aber sachlichen und vor allem qualifizierten Argumente und Standpunkte von Beschneidungskritikern viel zu wenig Beachtung. Löbliche Ausnahmen kann man an wenigen Fingern abzählen, beispielsweise das Interview mit Prof. Dr. Holm Putzke ausgerechnet in den „Deutsch Türkischen Nachrichten“, die Stellungnahme von Necla Kelek in der „Welt“ oder das Gespräch mit Evelyn Hecht-Galinski, Tochter eines früheren Vorsitzenden des Zentralrats der Juden, und dem Internationalen Bund der Konfessionslosen und Atheisten in der „Neuen Rheinischen Zeitung“.

Überwiegend kolportieren die Medien jedoch nur die mit lautstarkem Empörungsgeschrei vorgebrachten kategorischen Einwände der Urteilskritiker und übernehmen deren Argumente offenbar ungeprüft.

Grundtenor ist dabei in der Regel:

Um das friedliche Zusammenleben der Kulturen nicht zu stören, möge das archaische, schmerzhafte – und für das betroffene Kind zutiefst unfriedliche – Ritual der Beschneidung doch bitte toleriert werden.

Und das heißt im Klartext:

Als Preis für Weltoffenheit, Toleranz und Integration soll mit einem massenhaft begangenen Unrecht an KINDERN, mit deren Gesundheit und körperlicher Unversehrtheit, gezahlt werden. Was für ein perfider, eiskalter Handel mit Grund- und Menschenrechten, die zudem durch Artikel 24 der UN-Kinderrechtskonvention besonderes Gewicht bekommen!

Als Gegengewicht zu dieser medialen Schieflage sollen im Folgenden die 10 wichtigsten Aussagen der Beschneidungsbefürworter den sachlichen und faktenbasierten Gegenargumenten ihrer Kritiker gegenübergestellt werden. Möge sich dann jeder selbst ein Urteil darüber bilden, WAS in diesen Tagen vor unser aller Augen geschieht und welcher Entwicklung damit ganz offensichtlich Bahn gebrochen werden soll:

Aussage 1:
„Das [die Beschneidung von Jungen] ist Tradition, jeder macht es.“ (Yasar Bilgin, Vorsitzender der Türkisch-Deutschen Gesundheitsstiftung)

„Die Beschneidung neugeborener Jungen sei fester Bestandteil der jüdischen Religion, werde seit Jahrtausenden praktiziert und in jedem Land der Welt respektiert.“ (Dieter Graumann, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland)

Kommentar:
Unrecht wird nicht zu Recht, nur weil es massenweise und lange genug immer wieder begangen wurde und wird.

Sklavenhaltung beispielsweise war über Jahrtausende ein normaler Bestandteil menschlicher Gesellschaften. Dennoch war die Menschheit irgendwann reif genug, zu erkennen, dass es Unrecht ist, Menschen in Unfreiheit zu halten, und die Sklaverei wurde abgeschafft.

Nun scheint die Menschheit allmählich reif genug zu werden, um zu erkennen, dass es auch Unrecht ist, Menschen, KINDERN, ohne medizinische Notwendigkeit und ohne deren selbstbestimmte, ausdrückliche Zustimmung Körperteile abzutrennen. Dass ein Umdenken hier nicht von heute auf morgen und nicht ohne Reibungen geschehen kann, ist klar, aber dieser Schritt ist für die humanistische Weiterentwicklung der Menschheit letztendlich unvermeidbar.

Aussage 2:
„Womöglich schade [ein Beschneidungsverbot] sogar den Kindern, statt sie zu schützen. ‚Es besteht die Gefahr, dass die Eltern in ihre Heimatländer ausweichen.‘ Dort sei nicht gesichert, dass ein erfahrener und fachkundiger Arzt unter den notwendigen Hygienebedingungen den Eingriff durchführe.“ (Lutz Müller, Vorsitzender der hessischen Kinderärzte)

„Es sei zu befürchten, ‚dass das Niveau der medizinischen Qualität der Beschneidungen sinkt, weil betroffene Eltern ihre Kinder in Zukunft von Unqualifizierten beschneiden lassen könnten‘.“ (Maria Flachsbarth, Beauftragte der Unionsfraktion für Kirchen und Religionsgemeinschaften)

Kommentar:
Natürlich besteht immer die Gefahr, dass eine verbotene Praktik sich in den Untergrund bzw. die Herkunftsländer verlagert und dadurch riskanter wird. Das kann jedoch kein Grund dafür sein, eine unrechtmäßige Handlung im eigenen Land zu dulden.

Bei der weiblichen Genitalverstümmelung besteht dieses Risiko auch bzw. es ist bekannt, dass Mädchen für Beschneidungen in die Herkunftsländer gebracht werden. Dennoch kommt es nicht in Frage, eine der milden Varianten (z. B. das physiologische Äquivalent zur Jungenbeschneidung, nämlich die Entfernung der Klitorisvorhaut) von hiesigen Ärzten anbieten zu lassen, um zum einen die stärker verstümmelnden Varianten zu ersetzen und zum anderen Operationen unter katastrophalen Bedingungen zu unterbinden.

Die Lösung des Problems besteht sowohl bei Mädchen- als auch Jungenbeschneidung darin, dass parallel zum formalen Verbot eine intensive Aufklärungsarbeit stattfinden muss.

Ein weiteres Phänomen könnte sein, dass zukünftig verstärkt religiöse Beschneidungen als medizinisch notwendige Beschneidungen, etwa aufgrund einer Phimose (Vorhautverengung), „verpackt“ werden und damit auf Kosten des Gesundheitswesens und somit aller Versicherten gehen. Ärzte und Krankenkassen sollten die weitere Entwicklung diesbezüglich sehr genau im Auge behalten.

Aussage 3:
„Die Kinder reden untereinander. Was, bist du noch nicht beschnitten.“ (Yasar Bilgin, Vorsitzender der Türkisch-Deutschen Gesundheitsstiftung)

Kommentar:
Da die Beschneidungsalter zwischen verschiedenen religiösen Gruppen und sogar zwischen unterschiedlichen Familien gleicher Herkunft schon immer stark variierten, war diese Fragestellung ohnehin bereits gegeben. Wenn in Deutschland kein Kind unter 18 Jahren beschnitten werden darf, wird diese Problematik sogar entschärft, da sich die Anzahl der nicht beschnittenen Kinder erhöhen wird.

Prinzipiell kann die Sorge, dass ein Kind gehänselt oder aus der Gemeinschaft der Altersgenossen ausgeschlossen werden könnte, kein Argument für einen solchen irreversiblen Eingriff sein. Es gibt Wege und Möglichkeiten, Kinder so zu erziehen, dass sie solche Unterschiede anerkennen und respektieren. Das Problem besteht darin, dass die Familien den Kindern vermitteln, dass sie defizitär, „keine richtigen Jungen/Muslime/Männer“, vielleicht gar schmutzig sind, solange sie noch nicht beschnitten sind. Würden Kinder stattdessen von Hause aus das Selbstbewusstsein lernen, dass ihr natürlicher (gottgegebener?) Körper in Ordnung ist, wie er ist, und dass Beschneidung eine individuelle Entscheidung ist, die sie eines Tages für sich selbst treffen dürfen, könnten sie eventuellen Angriffen auf ihr „Nicht-Beschnittensein“ ganz anders entgegnen.

Aussage 4:
„In den USA wird die Beschneidung häufig bei Neugeborenen vorgenommen, um Krankheiten aufgrund von mangelnder Hygiene vorzubeugen“ (Infokasten der Frankfurter Rundschau, 28.6.2012)

„Zudem sei wissenschaftlich erwiesen, dass eine medizinisch fachgerechte Beschneidung nur Vorteile für die Kinder und späteren Erwachsenen mit sich bringe.“ (Aiman Mazyek, Vorsitzender Zentralrat der Muslime in Deutschland)

„Die Entfernung der Vorhaut habe hygienische Vorteile und vermindere die Übertragung von Infektionen.“ (Ali Demir, Landesvorsitzender Baden-Württemberg der Religionsgemeinschaft des Islam)

„Der Eingriff habe auch medizinische Vorteile, etwa der Schutz vor Aids, Phimose (Vorhautverengung) sowie Unterleibskrebs bei Frauen und sei auch unter Nichtjuden verbreitet.“ (David Goldberg, orthodoxer Rabbiner in Hof)

Kommentar:
Sowohl die mangelnde Hygiene bei vorhandener Vorhaut als auch der prophylaktische Effekt der Entfernung derselben sind urbane Mythen, die seit Jahrzehnten propagiert werden, um Beschneidung zu rechtfertigen und aufrechtzuerhalten. Bei genauer Betrachtung fallen das Argumentationsgebäude und die Beweislage pro Beschneidung jedoch in sich zusammen wie ein Kartenhaus. Die reale Häufigkeit der betreffenden Krankheiten bei Bevölkerungsgruppen bzw. in Ländern, die Beschneidung praktizieren oder nicht, spiegelt den „Schutzeffekt“ der Beschneidung meist nicht wider. Und beispielsweise die niedrigeren Raten von Gebärmutterhalskrebs unter jüdischen Frauen, früher der Beschneidung ihrer Partner zugeschrieben, werden inzwischen von israelischen Forschern auf genetische Ursachen zurückgeführt.

Doch selbst wenn die Schutzwirkung der Beschneidung für bare Münze genommen werden könnte, stellt sich immer noch die prinzipielle Frage, warum zum Schutz vor sexuell übertragbaren Krankheiten bereits Säuglinge und Kinder beschnitten werden müssen, die noch viele Jahre nicht sexuell aktiv sein werden. Außerdem bietet die moderne Welt mit fließendem Wasser, Kondomen und Impfungen inzwischen wesentlich weniger einschneidende Methoden, deren prophylaktische Effektivität zudem SICHER belegt ist. Oder bewegen wir uns etwa auf dem Niveau, dass Jungen und Männer von Natur aus schmutzig und verantwortungslos sind?

Im Übrigen ist auch die berüchtigte Phimose (Vorhautverengung) bei Anwendung fortschrittlicher, evidenzbasierter Medizin in den seltensten Fällen ein Grund für eine Beschneidung. In den meisten Fällen verwächst sich die Verengung spätestens im Lauf der Pubertät von selbst, ansonsten können ca. 80% der Fälle erfolgreich durch eine schmerz- und risikolose Behandlung mit Salben und Dehnübungen therapiert werden. Sollte eine Operation wirklich unvermeidbar sein, stehen moderne Verfahren zur Verfügung, bei denen die Vorhaut vollständig erhalten bleibt.

Was man ebenfalls wissen sollte:

Die Beschneidung (sowohl von Jungen als auch zeitweise von Mädchen!) in den USA begann vor ca. 150 Jahren nicht etwa als medizinisch-hygienische Maßnahme, sondern als Methode, um die damals verpönte Selbstbefriedigung zu erschweren und zu bestrafen. Damals wusste man noch, was man heute abzustreiten und zu vergessen versucht, nämlich dass die Vorhaut ein für das sexuelle Empfindungsvermögen essentieller Bestandteil der männlichen Genitalien ist, dessen Entfernung wesentliche negative Konsequenzen für die Sexualität hat. Alle modernen Argumente für eine Beschneidung, seien es Krebsvorsorge oder HIV-Schutz, wurden erst nachträglich zur Unterfütterung der bereits existierenden Beschneidungspraxis aufgebaut.

Weiterhin trifft es aktuell auch nicht mehr zu, dass in den USA die meisten Jungen beschnitten werden. Nachdem die Beschneidungsraten Ende der 1970er Jahre einmal weit über 90% lagen, werden inzwischen glücklicherweise nur noch deutlich weniger als die Hälfte der amerikanischen Jungen Opfer der – übrigens meist ohne (ausreichende) Betäubung durchgeführten – „routinemäßigen Säuglings­beschneidung“. Angesichts der sehr starken gesellschaftlichen Beharrungskräfte bei männlicher Beschneidung ist dies wirklich eine beeindruckende Entwicklung.

In den USA fand in den letzten Jahrzehnten also nicht nur eine Kritik seitens unbedeutender Randgruppen statt, sondern ein massives gesamtgesellschaftliches Umdenken, basierend auf der Erkenntnis, dass Säuglingsbeschneidung bestenfalls medizinisch-hygienisch unsinnig und schlimmstenfalls eine brutale Menschen­rechtsverletzung ist.

In anderen Ländern, die einmal die routinemäßige Säuglingsbeschneidung praktizierten, wie Kanada, Australien, Neuseeland und Großbritannien, sind die Raten noch stärker und teilweise so tief gefallen, dass diese Praktik dort als abgeschafft betrachtet werden kann.

Aussage 5:
„Bei einer Herzoperation an einem Baby fragen wir das Kind ja auch nicht, ob es den Eingriff will.“ (David Goldberg, orthodoxer Rabbiner und religiöser Beschneider in Hof, Bayern)

Kommentar:
Man muss sich die Frage stellen, ob man auf einen derart hanebüchenen Unsinn überhaupt eingehen soll. Die Aussage soll dennoch hier stehen bleiben, um zu dokumentieren, welche Argumente sich die Befürworter von nicht-therapeutischen Beschneidungen anzuführen nicht entblöden.

Und falls tatsächlich jemand von diesem Einwand beeindruckt sein sollte, dann sollte er einmal darüber nachdenken, ob er eine Herzoperation an einem Baby befürworten würde, die ein anderes Ziel hat als das Leben des Babys zu retten.

Aussage 6:
„In fast allen europäischen Ländern und auch in den USA ist es erlaubt. Nur hier soll es jetzt verboten werden.‘ Das sei ‚typisch für Deutschland‘.“ (Ramazan Kuruyüz, Vorsitzender der Islamischen Religionsgemeinschaft Hessen)

Kommentar:
Das ist eine vereinfachende und unvollständige Darstellung der Situation.

Insbesondere die skandinavischen Länder, parallel zum Kölner Beschneidungsurteil gerade Norwegen, diskutieren seit Jahren immer wieder ein Verbot von nicht-therapeutischen Beschneidungen und haben zum Teil auch schon Einschränkungen vorgenommen (z. B. Altersbegrenzungen für Beschneidungen durch rituelle Beschneider und Betäubungspflicht in Schweden).

Die niederländische königliche Ärztevereinigung hat 2010 ein Positionspapier herausgebracht, das klar gegen religiöse und andere nicht-therapeutische Beschneidungen von Kindern Stellung bezieht. Und sogar in den USA als „Mutterland“ der Säuglingsbeschneidung gab es 2011 in San Francisco eine Bürgerinitiative zum Beschneidungsverbot.

Darüber hinaus sollte eine konsequente Auslegung der bestehenden Gesetze in allen demokratisch verfassten Ländern zum Ergebnis haben, dass nicht medizinisch notwendige Beschneidung von nicht zustimmungsfähigen Jungen unrechtmäßig ist. Dass dies bisher nicht so praktiziert wird, ist lediglich einer historisch gewachsenen Blindheit auf diesem Auge zu schulden. Das Kölner Urteil hat somit keine von der bisherigen Situation oder dem internationalen Status Quo abweichenden Fakten geschaffen, sondern lediglich dem offiziellen Deutschland erstmals die bequem gewordene Klappe vom Auge gerissen.

Die deutsche Bevölkerung währenddessen begrüßt Umfragen zufolge mit einer deutlichen Mehrheit das Urteil. Auch aus Leserbriefen und Internetkommentaren ist dieses bejahende Votum abzulesen.

Aussage 7:
„Zu dem Urteil war es gekommen, nachdem ein vierjähriges Kind nach einer Beschneidung mit Nachblutungen in ein Krankenhaus eingeliefert worden war. Dem Jungen konnte rasch geholfen werden.“ (Harry Nutt, Leitartikel der Frankfurter Rundschau vom 28.06.2012)

Kommentar:
Ja, in diesem Fall konnte dem Jungen rasch geholfen werden, aber es gibt auch zahlreiche Fälle, in denen den Kindern nicht rasch oder gar nicht mehr geholfen werden kann.

Die aktuelle Debatte zum Verbot von Beschneidungen in Norwegen wurde beispielsweise dadurch ausgelöst, dass in Oslo ein zwei Wochen altes Baby nach einer ordnungsgemäß von einem Arzt durchgeführten Beschneidung verblutete. Auch in Großbritannien verblutete Anfang 2012 ein Säugling im Alter von nur einem Monat.

In den USA gingen in den letzten Wochen wieder einmal Herpesinfektionen von Neugeborenen durch das jüdisch-orthodoxe Ritual metzizah bi peh (Saugen des Blutes vom Penis des Babys mit dem Mund) durch die Presse, die zum Tod bzw. zu Hirnschäden bei mehreren Säuglingen führten (eine solche Praxis würde bei Fehlen des religiösen Hintergrundes im Übrigen als schwerer sexueller Missbrauch bestraft). Und in Israel wurde wenige Wochen vor dem Kölner Beschneidungsurteil einem Jungen versehentlich der Penis abgetrennt.

Dies sind nur einige wenige herausgegriffene Beispiele aus den letzten Monaten.

Stellt man alle bekanntgewordenen schweren Komplikationen und Todesfälle zusammen, kommt man auf ein erschreckendes Ausmaß an gravierenden „Kollateralschäden“ von Jungenbeschneidung. Und dabei wird ein Großteil der Komplikationen erst gar nicht bekannt, da sowohl Ärzte / traditionelle Beschneider als auch Familien ein Interesse haben, diese Geschehnisse nicht an die große Glocke zu hängen.

Aussage 8:
„Der weltweit geführte Kampf gegen weibliche Genitalverstümmlung hat gezeigt, wie schwer es ist, das Recht auf Menschenwürde gegen traditionelles Beharren zu verteidigen. Es muss daher unbedingt als Erfolg dieser Aufklärungsarbeit gewertet werden, dass sich eine solche Grenzziehung gerade auch in der muslimischen Welt durchzusetzen beginnt. Es ist zu befürchten, dass die Ächtung der Genitalverstümmelung bei Mädchen einen derben Rückschlag erleidet, wenn nun die männliche Beschneidung zum Gegenstand eines fortgesetzten Kulturkampfes wird.“ (Harry Nutt, Leitartikel der Frankfurter Rundschau vom 28.06.2012)

Kommentar:
Es gibt allerdings auch gegenteilige Meinungen und sogar Aussagen von Menschen aus den Kulturen, die Mädchen- und Jungenbeschneidung mit der gleichen Selbstverständlichkeit praktizieren (Mädchenbeschneidung existiert NUR DORT, wo auch Jungen beschnitten werden!):

Mit welchem moralischen Recht will die westliche Welt den Afrikanern verbieten, ihre Mädchen zu beschneiden, während die Beschneidung von Jungen unangetastet bleibt bzw. von der westlichen Welt sogar selbst praktiziert und in Afrika als (fatal fehlgeleitete) HIV-Prophylaxe propagiert wird?

Wie in so vielen Fällen offenbart die westliche Welt gegenüber den Kulturen, denen sie „helfen“ will, auch hier eine ausgeprägte Doppelmoral.

Diese Grenzziehung zwischen Traditionen und „relativer Menschenwürde“ ist in der Tat komplex und schwer zu vermitteln. Wird jedoch die Beschneidung von Mädchen und Jungen GLEICHERMASSEN abgelehnt, kann man sich auf eine einfache, in sich schlüssige und moralisch integre Argumentation beschränken, die da lautet:

JEDER Mensch hat das Recht, ohne Druck von außen selbst darüber zu entscheiden, welche Körperteile er behalten will.

Aussage 9:
„Bedeutet die Beschneidung junger Mädchen einen massiven Eingriff in die sexuelle Selbstbestimmung von Frauen, so hat die Beschneidung von Jungen über die Gefahren des Eingriffs hinaus keine ernsten Folgen.“ (Harry Nutt, Leitartikel der Frankfurter Rundschau vom 28.06.2012)

Kommentar:
Wie bereits im Kommentar zu Aussage 7 erläutert, sind die „Gefahren des Eingriffs“ nicht kleinzureden und sollten schon für sich genommen Grund genug sein, Kinder davor zu schützen. Darüber hinaus hat jedoch auch die Beschneidung von Jungen überaus ernste Folgen.

Es gibt zahlreiche Untersuchungen, die belegen, dass auch Jungenbeschneidung negative Auswirkungen auf die Sexualität hat. Eine Studie aus dem Jahr 2007 belegt beispielsweise, dass bei einer Beschneidung die fünf sensitivsten Stellen des männlichen Penis entfernt und damit das Empfindungsvermögen wesentlich eingeschränkt wird. Andere Studien zeigen die subjektiv negativ empfundenen Auswirkungen bei im sexuell aktiven Alter beschnittenen Männern und für die Sexualpartnerinnen beschnittener Männer. Der ausdrückliche Hinweis auf solche möglichen Folgen der Beschneidung ist im übrigen Bestandteil aller Patienteninformationen, die Betroffene oder deren Eltern etwa vor einer Phimose-OP gegenzeichnen müssen. Die Behauptung, eine Beschneidung habe über die Gefahren des Eingriffs hinaus keine ernsthaften Folgen, ist also definitiv falsch.

Männer, die bereits als Kinder beschnitten wurden und ihre Sexualität nie anders kennengelernt haben – und dies ist die überwältigende Mehrheit der Beschnittenen -, können dies selbstverständlich kaum beurteilen.

Weiterhin wird bei dieser Argumentation der übliche Fehler begangen, dass die „klassische“ Jungenbeschneidung mit der schwerwiegendsten Form von weiblicher Genitalverstümmelung, der Exzision oder pharaonischen Beschneidung, verglichen wird. Es gibt jedoch auch wesentlich mildere Formen der weiblichen Genitalverstümmelung, bei der beispielsweise „nur“ die weibliche Vorhaut oder Klitorishaube entfernt wird. Dieser Eingriff, den manche „westliche“ Frauen sogar freiwillig und selbstbestimmt durchführen lassen, weil sie sich davon eine Erhöhung der sexuellen Sensitivität erhoffen, ist physiologisch das exakte Äquivalent zur männlichen Beschneidung. In Indonesien besteht „weibliche Genitalverstümmelung“ teilweise nur aus einem Einritzen oder Einstechen ohne Entfernung von Gewebe, so dass noch nicht einmal Ärzte bei gezielten Untersuchungen bestätigen können, dass ein Eingriff vorgenommen wurde.

Soll also die Jungenbeschneidung wegen (angeblich) fehlender sexueller Auswirkungen tolerierbar sein, dann fehlt auch die Handhabe gegen die milden Formen der Mädchenbeschneidung.

Aussage 10:
Das Urteil sei ein „beispielloser und dramatischer Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften“ und ein „unerhörter und unsensibler Akt“. Bei einer bundesweiten Umsetzung des Urteils würde „jüdisches Leben dadurch in Deutschland unmöglich gemacht“. (Dieter Graumann, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland)

„Sollte die Beschneidung aus religiösen Gründen in Deutschland verboten sein, kann sich das Land jede weitere Integrationspolitik sparen.“ (Serkan Tören, Integrationsexperte der FDP)

Kommentar:
Dieter Graumann mag für sich und die von ihm vertretene Auslegung des Judentums sprechen, doch diese ist schwerlich für alle Juden in Deutschland oder gar weltweit gültig.

Langsam, aber beharrlich findet seit vielen Jahren in der jüdischen Weltgemeinschaft eine Entwicklung statt, die die religiöse Beschneidung an Neugeborenen in Frage stellt und hinter sich lässt. Mehr und mehr Eltern entscheiden sich stattdessen für eine alternative, unblutige und schmerzlose Zeremonie namens Brit Shalom, um ihre Söhne an ihrem achten Lebenstag in der Gemeinschaft willkommen zu heißen – und leben dennoch stolz und bewusst ihren jüdischen Glauben und vermitteln ihn ihren Kindern.

Diese Bewegung ist in den USA, wo die Debatte ausgehend von der Kritik an der nicht-religiösen „routinemäßigen Säuglingsbeschneidung“ schon wesentlich früher begann, am größten, hat jedoch sogar Israel erreicht. Prof. Dr. Holm Putzke, Jurist an der Universität Passau, Beschneidungskritiker und vielgefragter Mann in den Tagen nach der Urteilsverkündung, betont in einem Interview mit der israelischen Zeitung Haaretz: „Ich habe in den letzten Tagen tausende E-Mails aus der ganzen Welt erhalten. Am bemerkenswertesten ist, dass die E-Mails aus Israel die ausgewogensten und gemäßigtsten waren.“

Noch größer als die Zahl der jüdischen Eltern, die den radikalen Schritt gehen und auf eine Beschneidung verzichten, dürfte die Zahl jener Eltern sein, die sich mit der Beschneidung fundamental unwohl fühlen und sie vielleicht sogar im Widerspruch zu grundlegenden Werten und Idealen ihres Glaubens sehen, sich aber der Angst vor Ausgrenzung und dem Druck der Gemeinschaft beugen und ihre Söhne dennoch beschneiden lassen. Diesen Eltern wird durch die Entscheidung des Kölner Gerichtes wesentlich der Rücken gestärkt, ihren eigenen Instinkten zu folgen.

Ist vielleicht gerade dieser Verlust der Kontrolle über die Gläubigen die größte Angst der religiösen Autoritäten?

Wenn die Existenz des Judentums tatsächlich vom Abschneiden eines Teils des Penis von neugeborenen Jungen abhängig wäre, dann wäre es wahrhaftig eine sehr arme Religion. Das ist jedoch nicht der Fall. Um es mit den wunderbaren Worten von Dr. Jenny Goodman, britisch-jüdische Ärztin, Psychotherapeutin und Feministin, zu sagen:

„Ich bin zuversichtlich, dass mein Volk so viele lebensbejahende, lebensfreudige und erkenntnisbringende Traditionen hat, dass unsere Identität und kulturelle Selbstachtung ohne Probleme überleben wird, wenn wir über die Beschneidung hinauswachsen, die ein grausames Relikt ist, das ich immer als eine Abweichung vom Herzen meiner Religion empfunden habe.“

Gleiches trifft selbstverständlich auch auf den Islam zu, auch wenn dieser noch einen weiteren Weg zu gehen und noch mehr Hürden aus oppressiven und inhumanen Traditionen zu überwinden hat. Gleichzeitig lässt der Islam in Bezug auf die Beschneidung aber wesentlich mehr Spielraum zu als das Judentum, was sogar schon in den Aussagen vieler muslimischer Urteilskritiker anklingt. So ist Beschneidung etwa nicht im Koran erwähnt, der nach muslimischer Glaubensauffassung das vollständige und unverfälschte Wort Gottes ist. Stattdessen steht im Koran, dass der menschliche Körper von Allah perfekt geschaffen wurde und keiner Verbesserung durch den Menschen bedarf.

Die Grundlage für die muslimischen Beschneidungstraditionen – sowohl von Jungen als auch von Mädchen – besteht in Hadithen, überlieferten Worten und Taten der Propheten. Wie verbindlich diese Hadithe sind und ob es sich dabei um eine Pflicht, eine Empfehlung oder eine Ehre handelt, ist unter Islamgelehrten umstritten, in jedem Fall ist jedoch KEIN Alter für die Beschneidung vorgeschrieben.

Ein weiterer wichtiger und häufig zitierter Grundsatz des Islam ist, dass es keinen Zwang im Glauben gibt.

Es scheint dementsprechend nicht nur möglich zu sein, die Beschneidung ins Erwachsenenalter zu verschieben, sondern der Verzicht auf Zwangsbeschneidungen im Kindesalter scheint sogar im Sinne des Islam zu sein.

Zu guter Letzt kann man nur noch einmal betonen:

Niemand, auch nicht die schärfsten Beschneidungsgegner, hat vor, religiöse Beschneidungen zu verbieten. Sie sollen lediglich auf ein Alter verschoben werden, in dem der Betroffene in der Lage ist, sich eine eigene Meinung über Religion und die Auswirkungen einer Beschneidung zu bilden und selbstständig zu entscheiden, ob er sich diesem Eingriff für seinen Glauben unterziehen will.

Dies ist kein Angriff auf die Religionsfreiheit, sondern im Gegenteil die Herstellung wahrhaftiger Religionsfreiheit, der Freiheit des Individuums.

Es ist ein Angebot, Toleranz nicht nur einzufordern, sondern gegenüber den betroffenen Kindern zuallererst einmal selbst zu üben.

Und vielleicht stellt sich ja heraus, dass die Religionen dadurch nichts verlieren, sondern im Gegenteil mehr persönlichen und gemeinschaftlichen, inneren und äußeren Frieden gewinnen.

Dr. Meike Beier & Mario Lichtenheldt

Bildquelle: (c) Gabi Schonemann/www.pixelio.de

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