Fachtagung zum Männergesundheitsbericht 2013
Während die Bundesregierung noch immer am ersten offiziellen Männergesundheitsbericht strickt, hat die privat finanzierte Stiftung Männergesundheit mittlerweile den zweiten fertig – diesmal mit Fokus auf psychische Erkrankungen. Er wurde am 24.04. offiziell der Presse vorgestellt. Am 10.06.2013 fand nun in Stuttgart eine Fachtagung „Neue Perspektiven für die Jungen- und Männergesundheit“ statt, bei der die Ergebnisse des MGB 2013 einem breiteren Publikum dargelegt wurden. MANNdat war selbstverständlich vor Ort.
Am Montag, dem 10.6.2013, fand in Stuttgart, organisiert vom Sozialwissenschaftlichen Institut Tübingen SOWIT, eine Fachtagung zum Thema „Neue Perspektiven für die Jungen- und Männergesundheit“ statt, bei der die Ergebnisse des neuen Männergesundheitsberichts 2013, welcher am 24.4. offiziell der Presse vorgestellt wurde, einem breiteren Publikum dargelegt wurden. Mitwirkende und Unterstützer des Männergesundheitsberichtes waren hierzu zu Gast und referierten über einzelne Themengebiete des Berichtes. (Faltblatt der Veranstaltung)
Prof. Dr. Martin Dinges vom Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung eröffnete und erläuterte die Grundlagen der Gesundheitssituation von Jungen und Männern. Er widerlegte klar und nachvollziehbar das gängige Klischee vom Mann als Vorsorgemuffel, der an seiner kürzeren Lebenserwartung „selbst schuld“ ist. Eine dreifach höhere Suizidrate von Männern gegenüber dreimal häufigerer Diagnose einer Depression bei Frauen spreche eine deutliche Sprache. Eine der Ursachen der geschichtlichen Entwicklung der Gesundheitssituation seien die extrem prägenden gesellschaftlichen Ansprüche und Zwänge sowie erlebte Erziehungsmethoden von Kriegs- und Nachkriegsmännern, über die Hitlerjugend etc., die sich in einem gelebten und weitergegebenen Verhalten äußerten, welches „bis in die dritte Generation nachwirkt“ und somit nachmessbar selbst Enkel betreffe. Dinges verwies u. a. auch darauf, dass Frauen heute dreimal mehr Psychopharmaka konsumieren, während im Gegenzug noch im 18. Jahrhundert ca. dreimal mehr Männer als Frauen entsprechende Medikamente verschrieben bekamen.
Auf die speziellen Probleme von Jungen ging der Doppelvortrag von Gunter Neubauer und Dr. Reinhard Winter von der SOWIT ein. Vorrangig durch das Bildungswesen hervorgerufene Ängste und gesellschaftliche Zwänge, resultierend aus den Geschlechterrollenverständnissen von Jungen und Mädchen, äußerten sich in extrem hohen Zahlen sogenannten „risikobehafteten Verhaltens“. Die Suizidrate von Jungen und Jugendlichen sei um das Dreifache höher als in anderen Altersgruppen. Neunmal mehr Jungen brächten sich um als Mädchen!
Anm.d.R: Es gibt sogar Schätzungen, die von 12mal und mehr ausgehen, wenn man verschiedene andere Aspekte ebenfalls als suizid-bezogen einstuft, die aktuell noch aus der Statistik herausfallen. Mädchen gaben z.B. in einer Befragung mehrheitlich an, im Falle eines Suizidversuches dies wahrscheinlich mit einer Überdosis Tabletten oder Drogen zu tun. Die Jungen aber gaben an, dass sie sich betrinken und mit dem Auto über eine Klippe oder vor einen Telegrafenmast fahren würden. Die von den Mädchen gewählte Methode findet Einzug in die Statistiken zu Suizid und Suizidversuchen, die von Jungen mehrheitlich favorisierte Methode findet dagegen Einzug in die Statistiken zu „Fahren unter Alkoholeinfluss mit Todesfolge“. Somit ist nicht auszuschließen, dass die wahren Suizidraten von Jugendlichen sogar nochmal um einiges höher sind, immerhin sind gerade männliche betrunkene Jugendliche nicht selten Opfer von Verkehrsunfällen mit Todesfolge.
Winter und Neubauer führten weiterhin an, dass das sogenannte „risikobehaftete Verhalten“ von Jungs viel zu wenig Beachtung im Kontext von „Selbstverletzung“ finde, wie dies etwa beim „Ritzen“ von Mädchen stattfindet. Nach ihrer Einschätzung falle „risikobehaftetes Verhalten“, wie etwa das Klettern auf hohe Bäume, das Balancieren auf einer maroden Mauer, Schnellfahren, das Ausüben gefährlicher Sportarten in die gleiche Kategorie – da dieses Verhalten ebenfalls ein extremes Selbstverletzungsrisiko beinhalte. Somit sollten Hilfs- und Unterstützungsprogramme für selbstverletzende Mädchen in gleichen Maße Jungen mit derartigem Verhalten zugutekommen.
Unser Bildungswesen sei nicht auf die Verhaltensmuster und Bedürfnisse von Jungen ausgerichtet. Die faktische Bildungsbenachteiligung von Jungen äußere sich nicht nur in schlechteren Noten bei gleicher Leistung, sondern auch im Schulklima und -alltag. „Männlichkeit“ als rollenspezifisches Verhalten sei daher – Stichwort Bewegungsdrang – ein Stressfaktor für Jungen, so Winter. Von 2006 bis 2010 erfolgte ein Anstieg von ADHS Diagnosen (mit entsprechender Medikation) um über 30 Prozent. (Anm.d.R: Im Jahr 2009 wurde Ritalin unglaubliche 184 Mal häufiger verschrieben als noch 20 Jahre zuvor!) Das Asperger Syndrom, ein „männlich geprägtes Störungsbild“, welches noch nicht hinreichend untersucht sei, nehme nachweisbar ebenfalls zu. Gerade im Hinblick auf ADHS wurde von Winter das Problem der Fehldiagnosen im Vergleich Mädchen zu Jungen thematisiert. In einem Feldtest wurde bspw. exakt das gleiche Verhaltensmuster für einen Patienten einmal mit männlichen, einmal mit weiblichen Vornamen an verschiedene Psychotherapeuten und Psychologen versandt und eine Diagnose eingeholt. Bei den männlichen Patienten wurde bei weitem häufiger angeblich ADHS diagnostiziert – seltsamerweise auch von mehr männlichen Psychotherapeuten als von weiblichen. Offenbar sind Geschlechterstereotypen auch bei den Beurteilenden ein nicht zu unterschätzender Faktor. Winter und Neubauer bemängelten das faktische Nichtvorhandensein speziell auf Jungen zugeschnittener Beratungsangebote für Suizidgefährdete bzw. Suizidopfer (Freunde, Verwandte). Das aktuell vorherrschende Schulsystem, welches auf Jungenbedürfnisse nicht zugeschnitten sei und auf Jungenprobleme nicht eingehe und das daraus resultierende Schulklima (Anm.d.R.: und letztendlich damit auch die Bildungspolitik selbst) mache Jungen krank.
Frau Dr. Möller-Leimkühler von der Psychiatrischen Klinik der Ludwig-Maximilians-Universität München ging in ihrem Vortrag u.a. auf die Probleme der Chronifizierung und der Komorbidität in Bezug auf psychische Krankheiten bei Männern und Jungen ein. In ihrem Beispiel führte sie aus, dass es bis zu 7 Jahre dauern könne, bis bei Männern überhaupt erst eine Behandlung psychischer Krankheiten stattfinde, was häufig zu chronischen Schäden führe. Der langfristige volkswirtschaftliche Schaden durch psychische Krankheiten sei immens. Extreme Drucksituationen, wie die hohe Präsenzpflicht am Arbeitsplatz, erzeugten kontinuierlich Stress. Die Angst vor Arbeitsplatzverlust bei längerer Krankschreibung führe dazu, dass Männer ihre Beschwerden viel zu lange ignorieren, um dem gesellschaftlichen Maschinismus-Anspruch des „Funktionieren-müssens“ an sich gerecht zu werden. Die Angst vor sozialer Stigmatisierung durch psychische Erkrankungen sei gerade bei Männern immens.
Prof. Dr. Dinges brachte zum gesellschaftlichen Krankheitsphänomen „Burn Out“ einen interessanten Aspekt ins Spiel. In der Gesellschaft wird das Überlastungs- bzw. Überanstrengungssyndrom „Burn Out“ nämlich gleich verstanden mit einem „sich überarbeitet haben“ und dieses Bild „krank durch zu viel Arbeit“ gäbe gerade Männern eine rollenkonforme und damit gesellschaftlich akzeptierte Möglichkeit, um Hilfe zu ersuchen. „Zu viel gearbeitet“ zu haben werde von der Gesellschaft nämlich gerade bei Männern wesentlich verständnisvoller aufgenommen und bewertet als im Gegenzug die Diagnose „Psychische Erkrankung“.
Durch nichtdiagnostizierte und unbehandelte Erkrankungen steige, so Möller-Leimkühler, das Risiko auf psychische und somatische Komorbidität, also sekundärer Krankheitsbilder, z.B. Schmerzkrankheitsbilder im Bewegungsapparat oder zusätzlicher psychische Krankheitsbilder. Unbehandelte Komorbidität könne zu einer erheblich reduzierten Lebenserwartung führen, bei Frauen bis zu 15, bei Männern sogar bis zu 20 Jahren! Möller-Leimkühler führt als Ursachen für die genannte Unterdiagnostizierung männlicher psychischer Erkrankungen neben dem genannten gesellschaftlichen Wertesystem und sozialen Stigmatisierungen psychisch erkrankter Männer u.a. auch strukturelle Merkmale an, wie etwa, dass Hilfsangebote eher auf Frauen zugeschnitten seien. Die ärztliche Diagnostik konzentriere sich bei Männern nach wie vor überwiegend auf somatische Diagnostik, also Herz-Kreislauf und den Bewegungsapparat und weniger auf psychische Faktoren. Möller-Leimkühler mahnte überdies ein Umdenken bei den Ärzten im Umgang mit männlichen Patienten an. Frauen gegenüber seien gerade männliche Ärzte viel eher bereit, zuzuhören und ausführliche Gespräche zu führen und somit eine Vertrauensbasis aufzubauen, in der Krankheitsbilder genauer herausgearbeitet werden können. Männern gegenüber seien Ärzte jedoch oft wesentlich kürzer angebunden, es erfolge kein ausführlicher Dialog, sondern eher ein Gespräch „von oben herab“. Männliche Patienten müssten oft eine wesentlich kürzere Beschäftigungszeit des Arztes mit ihren Problemen hinnehmen, was Männer auf der anderen Seite auch wieder enttäusche und frustriere. Die männliche Bereitschaft, öfter und früher zum Arzt zu gehen, würde dadurch jedenfalls nicht gefördert. Um die derzeitige Situation zu verbessern, plädierte Möller-Leimkühler für nachhaltige Änderungen wie die Einrichtung von Männersprechstunden, Männergesundheitszentren (Anm.d.R: analog den bereits existierenden 17 Frauengesundheitszentren in Deutschland), sowie Männergruppen in stationärer Versorgung und Implementation der Genderperspektive.
Prof. Dr. Bertram Szagum von der Fakultät Soziale Arbeit, Gesundheit und Pflege der Hochschule Ravensburg-Weingarten ging in seinem Vortrag auf die Vorgänge im Gehirn und die besonderen Risiken passiven, latenten Stresses ein. Nach seinen Ausführungen sind vor allem Jungen und junge Männer von passivem Stress betroffen, durch sogenannte „soziale Katastrophen“ wie Ausgrenzung oder Herabsetzung. Als Beispiel für solche Situationen, die extremen bzw. dauerhaften latenten psychischen Druck erzeugen, nannte er u.a. Jobverlust und die Angst davor, Beziehungsstress für Jungs beim Versuch, Mädchen kennen zu lernen, sowie Versagensängste im Schulalltag, das Verlassenwerden von Männern mittleren Alters, Ausgrenzung von der Erziehung und vom Kontakt zu den Kindern (Kindesentzug, PAS). Alte Männer hätten hingegen oft Angst vor einem „Statusverlust“ durch Altersarmut und dadurch, plötzlich auf andere angewiesen zu sein.
Im anschießenden Podiumsgespräch monierte Doris Bardehle von der Stiftung Männergesundheit, dass das Präventionsgesetz in der 2. Fassung gerade im Bundesrat abgelehnt wurde. Die anwesenden Vertreter von Landes- und Kommunalpolitik Baden-Württemberg und Stuttgart bestätigten, dass ihnen die problematische Gesundheitssituation und die dringend notwendigen Maßnahmen durchaus geläufig seien, allein sie verwiesen auf das Problem, dass dieses Thema noch immer ein Minenfeld im politischen Diskurs sei. Sobald das Thema Männer- und Jungenförderung – in welcher Form auch immer – aufs Tapet käme, würde umgehend der feministische Beißreflex der etablierten Frauenförderer einsetzen, mit dem derartige Themen sofort im Keim erstickt würden. Das Fazit des landespolitischen Vertreters: „Sie brauchen es gar nicht erst zu versuchen, Sie haben keine Chance.“ Da braucht es wohl noch etwas mehr Mut und Durchsetzungswillen in der Politik, vor allem bei den vorgebrachten Zahlen! Von 2007 bis 2011 stieg etwa in Baden-Württemberg die Suizidrate von Männern um 2,8 %, im Gegenzug fiel die der Frauen um 16,8 %. Immerhin gäbe es erste zaghafte Schritte, wie etwa das regionale Projekt „Jungen im Blick“ als Jungenberatungsinstitution. Allerdings wurde auch hier im zweiten Satz gleich hinterher geschoben, dass dieses Projekt hinsichtlich Finanzierung und Besetzung weit dem weiblichen Pendant „Mädchengesundheitsladen“ hinterher hinke. Immerhin bekannte man sich klar zu der Aussage: „Gleichstellungsbeauftragte sollten auch Männer sein, um männerspezifische Probleme besser verstehen zu können.“ Dem können wir von MANNdat uns nur anschließen.
Bis den Gesundheitsproblemen von Jungen und Männern endlich die gleiche Akzeptanz und Hilfe zuteil wird wie Frauen und Mädchen, ist es wohl noch ein langer Weg.
Die nächste Fachtagung Jungen- und Männergesundheit, wird voraussichtlich am Mi. 29. und Do. 30. Januar 2014 stattfinden. Geplante Themenschwerpunkte sind dann der MGB 2013 und der MGB der Bundesregierung, welcher – wie Herr Dinges ironisch bemerkte – nach mittlerweile drei Jahren Entstehungszeit „dann sicher auch sehr detailliert und gründlich sein wird“, Jungen- und Männergesundheit im Lebensverlauf, sowie Praxisansätze mit Workshops am 2. Veranstaltungstag.
MANNdat wird natürlich am Ball bleiben und berichten. Vielleicht findet sich ja bis dahin sogar das Bundesforum Männer dazu bereit, den Männergesundheitsbericht 2013 zumindest zu erwähnen, aktuell findet sich auf der BuFo-Homepage nämlich leider nur ein Artikel zum ersten MGB (2010).
Der Männergesundheitsbericht 2013 zur Psychischen Gesundheit kann hier bestellt werden.
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