Jungen und Männer in Deutschland

von Dr. Bruno Köhler

Jungen in der Schule

Jungen weisen bereits im Vorschulalter häufiger Entwicklungsverzögerungen auf als Mädchen, haben häufiger chronische Krankheiten sowie grob- und feinmotorische und sprachliche Beeinträchtigungen [1]. Ein ernsthafte, durchgängige Thematisierung dieser ungleichen Rahmenbedingungen zuungunsten der Jungen auf bildungspolitischer Ebene findet nicht statt.

Das Forschungsteam um die Berliner Erziehungswissenschaftlerin Renate Valtin kam im Rahmen der IGLU-Studie (Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung) zu dem Ergebnis, dass Jungen bei gleichen Testleistungen schlechtere Schulnoten bekommen [1]. Jungen benötigten schon Mitte der 90er Jahre laut einer Untersuchung in Hamburg einen besseren Leistungsdurchschnitt als Mädchen für eine Empfehlung zum Gymnasium [2]. Konsequenzen oder zumindest eine genaue Analyse der Ursachen stehen bis heute aus.

Die nachfolgende Tabelle gibt die deutschen und ausländischen Schulabsolventen nach Schulart und Geschlecht im Jahr 2003 in % wieder:

Scrollen Sie bitte, falls die Tabelle nicht vollständig angezeigt wird.

o.M. = ohne Migrantenhintergrund (Datenquelle: Statistisches Bundesamt, Fachserie 11, Reihe 1; vgl. auch Studie „Viele Welten leben“ 2004, BMFSFJ)
Abschluss Jungen (o.M.) Mädchen (o.M.) Migranten-Jungen Migranten-Mädchen
Ohne 10,0% 5,8% 22,6% 15,4%
Hauptschule 27,9% 21,0% 42,6% 40,4%
Realschule 39,8% 43,4% 26,4% 32,1%
Gymnasien 22,3% 29,8% 8,5% 12,1%

Aufgrund dieser Befunde kann heute ein schlechteres Bildungsniveau von Jungen gegenüber Mädchen konstatiert werden.

Jungenanteile in Schulen
Die Daten über den Jungenanteil an den einzelnen Schularten zeigen vor allem eines: In allen Ländern sind die Jungen in der Haupt- und Sonderschule über- und an Gymnasien unterrepräsentiert, wobei insbesondere der durchgängig hohe Jungenanteil an den Sonderschulen auffällt.

Scrollen Sie bitte, falls die Tabelle nicht vollständig angezeigt wird.

Quelle für 2004/2005: Statistisches Jahrbuch 2006, pdf-Version, Seite 130
Land Jungenanteil in Schulen (%) 2005
Hauptschulen Gymnasien Sonderschulen
Bundesrepublik Deutschland 55,9 46,1 63,2
Baden-Württemberg 55,5 47,0 62,9
Bayern 55,2 47,5 62,2
Berlin 54,0 45,4 61,4
Brandenburg 51,5 42,2 64,0
Bremen 53,6 45,5 60,6
Hamburg 54,6 47,1 61,9
Hessen 55,3 46,3 62,9
Mecklenburg-Vorpommern 60,0 44,9 62,8
Niedersachsen 57,8 45,1 63,2
Nordrhein-Westfalen 57,2 46,1 64,3
Rheinland-Pfalz 55,0 45,5 62,7
Saarland   46,7 64,5
Sachsen   45,3 63,4
Sachsen-Anhalt   43,8 62,8
Schleswig-Holstein 56,3 47,1 62,8
Thüringen   44,6 63,1

Interessant ist ein Vergleich der Bildungsabschlüsse von Jungen und Mädchen in den einzelnen Bundesländern.

Scrollen Sie bitte, falls die Tabelle nicht vollständig angezeigt wird.

Schulabschlüsse Jungen 2005
Land Schulabschluss % der Jungen % der Mädchen
Deutschland ohne Hauptschule 10,2 6,0
  Hauptschule 28,0 21,5
  Realschule 40,1 43,2
  Fachhochschulreife 1,2 1,4
  allg. Hochschulreife 20,5 27,9
Baden-Württemberg ohne Hauptschule 8,0 5,30
  Hauptschule 34,9 29,5
  Realschule 38,2 41,1
  Fachhochschulreife 0,2 0,2
  allg. Hochschulreife 18,6 23,8
Bayern ohne Hauptschule 9,9 5,8
  Hauptschule 37,1 29,3
  Realschule 36,1 43,1
  Fachhochschulreife    
  allg. Hochschulreife 16,9 21,7
Berlin ohne Hauptschule 11,8 7,1
  Hauptschule 25,0 18,3
  Realschule 34,7 35,9
  Fachhochschulreife    
  allg. Hochschulreife 28,5 38,8
Brandenburg ohne Hauptschule 13,1 6,0
  Hauptschule 21,5 13,7
  Realschule 41,8 45,0
  Fachhochschulreife 0,2 0,1
  allg. Hochschulreife 23,5 35,1
Bremen ohne Hauptschule 10,9 6,5
  Hauptschule 22,8 18,8
  Realschule 39,1 41,3
  Fachhochschulreife 2,0 1,3
  allg. Hochschulreife 25,1 32,0
Hamburg ohne Hauptschule 13,6 9,4
  Hauptschule 25,9 21,1
  Realschule 29,3 30,4
  Fachhochschulreife 1,7 1,9
  allg. Hochschulreife 29,5 37,2
Hessen ohne Hauptschule 10,0 6,3
  Hauptschule 29,2 22,2
  Realschule 38,9 41,0
  Fachhochschulreife 1,6 2,0
  allg. Hochschulreife 20,3 28,6

Scrollen Sie bitte, falls die Tabelle nicht vollständig angezeigt wird.

Schulabschlüsse 2005 (Quelle: Berechnet aus Daten des Statistischen Bundesamtes „6.1  Absolventen/Abgänger 1992 bis 2005 nach Abschlussarten und Ländern“ und „1.6.2  Absolventen/Abgänger weiblich“. Das Statistische Bundesamt führt i.d.R. keine speziellen Jungendaten!)
Schulabschlüsse 2005
Land Schulabschluss % der Jungen % der Mädchen
Mecklenburg-Vorpommern ohne Hauptschule 13,7 7,60
  Hauptschule 20,4 15,1
  Realschule 45,7 46,90
  Fachhochschulreife 1 1,3
  allg. Hochschulreife 19,3 29,20
Niedersachsen ohne Hauptschule 11,2 6,80
  Hauptschule 23,2 17,2
  Realschule 45,8 48,00
  Fachhochschulreife 1,7 2,2
  allg. Hochschulreife 18,1 25,80
Nordrhein-Westfalen ohne Hauptschule 8,6 5,20
  Hauptschule 25,7 19
  Realschule 40,4 42,80
  Fachhochschulreife 3,1 3,3
  allg. Hochschulreife 22,2 29,70
Rheinland-Pfalz ohne Hauptschule 9,5 5,50
  Hauptschule 33,8 26,7
  Realschule 36,4 39,50
  Fachhochschulreife 0,9 1,3
  allg. Hochschulreife 19,4 27,00
Saarland ohne Hauptschule 10,5 6,30
  Hauptschule 38,8 30,1
  Realschule 30,5 35,60
  Fachhochschulreife 0,6 0,9
  allg. Hochschulreife 19,6 27,10
Sachsen ohne Hauptschule 11,7 6,30
  Hauptschule 15,7 10,2
  Realschule 51 52,50
  Fachhochschulreife    
  allg. Hochschulreife 21,5 31,00
Sachsen-Anhalt ohne Hauptschule 15,1 8,30
  Hauptschule 11 6,9
  Realschule 51,8 52,40
  Fachhochschulreife 1,6 1,9
  allg. Hochschulreife 20,5 30,50
Schleswig-Holstein ohne Hauptschule 12 7,50
  Hauptschule 38,9 32,5
  Realschule 30,2 34,70
  Fachhochschulreife 1,2 1,3
  allg. Hochschulreife 17,7 23,90
Thüringen ohne Hauptschule 10,4 5,40
  Hauptschule 21,1 13,2
  Realschule 43,3 46,50
  Fachhochschulreife    
  allg. Hochschulreife 25,1 34,90

Die Daten zeigen, dass in allen Ländern das Niveau der Bildungsabschlüsse der Jungen schlechter ist als das der Mädchen. Den mit Abstand höchsten Anteil von Jungen ohne Hauptschulabschluss hat Sachsen-Anhalt (15,1%), gefolgt von Mecklenburg-Vorpommern (13,7%).

Interessant ist die Feststellung, dass Baden-Württemberg und Bayern die niedrigsten männlichen Abiturienten aufweisen (Baden-Württemberg 18,8%; Bayern 16,9%), obwohl bei Schulvergleichstests (z.B. PISA) diese beiden Länder die besten Werte für Deutschland erhalten. Beide Länder zeigen aber auch geringste geschlechtsspezifische Unterschiede in den Abiturientenzahlen. Dies lässt die Vermutung zu, dass anspruchsvollere Bildungssysteme in Deutschland auch zu mehr Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern im Bildungswesen führen. Diese These will MANNdat e.V. näher untersuchen. Die Deutschlandkarte der Jungenanteile ohne Hauptschulabschluss zeigt ein deutliches Ost-West und Nord-Süd-Gefälle.

Jungen ohne Hauptschulabschluss: Je dunkler, desto höher der Anteil

Die geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Hoch- und Fachhochschulreife sind ebenfalls interessant. Negativer Spitzenreiter unter den Bundesländern ist Mecklenburg-Vorpommern, wo rund 54,5 Prozent mehr Mädchen als Jungen die Hoch- oder Fachhochschulreife erlangen als Jungen.

Scrollen Sie bitte, falls die Tabelle nicht vollständig angezeigt wird.

Quelle für 2004/2005: Statistisches Jahrbuch 2006, pdf-Version, Seite 131
Land Unterrepräsentation der Jungen bei der Hoch- und Fachhochschulreife
Anzahl Mädchen Anzahl Jungen Rel. Unterrepräsentanz: (Jungen-Mädchen)/Jungen
Bundesrepublik Deutschland 134628 103450 -30,1
Baden-Württemberg 13394 11487 -16,6
Bayern 14484 11601 -24,9
Berlin 6984 5343 -30,7
Brandenburg 6545 4419 48,1
Bremen 1198 892 -34,3
Hamburg 2937 2319 -26,6
Hessen 9952 7624 -30,5
Mecklenburg-Vorpommern 3590 2324 -54,5
Niedersachsen 11896 8665 -37,3
Nordrhein-Westfalen 33811 26657 -26,8
Rheinland-Pfalz 6298 4758 -32,4
Saarland 1390 1146 -21,3
Sachsen 8082 5847 -38,2
Sachsen-Anhalt 5234 3655 -43,2
Schleswig-Holstein 3682 2994 -23,0
Thüringen 5151 3719 -38,5

Lesekompetenz
Die Lesekompetenz ist als eine der wichtigsten Basiskompetenzen auch für Jungen von großer Bedeutung. Sie ist essentiell für Sprachentwicklung und Kommunikationsfähigkeit und stellt somit auch einen Schlüssel zum sozialen Verhalten und wissenschaftlichen Verständnis dar.

In der nachstehenden Tabelle sind die Werte, die die PISA-Studie 2000 im Hinblick auf die Lesekompetenz ermittelt hat, aufgeführt. In der rechten Spalte ist, soweit ermittelt, die jeweilige Differenz zwischen dem Wert für Mädchen und dem für Jungen angegeben. Die drei schlechtesten Werte sind jeweils rot markiert.

Scrollen Sie bitte, falls die Tabelle nicht vollständig angezeigt wird.

Datenquellen: PISA 2000 – Ein differenzierter Blick auch die Länder der Bundesrepublik Deutschland – Zusammenfassung zentraler  Befunde, Berlin, Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, 2003. Lesekompetenz Mädchen+Jungen aus: PISA 2000 Die Länder der Bundesrepublik Deutschland im Vergleich, Berlin, Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, 2002
Land Lesekompetenz PISA (15-jährige) 2000
Lesekompetenz Jungen+Mädchen Diff. Mädchen – Jungen
Bundesrepublik Deutschland 484 32
Baden-Württemberg 500 22
Bayern 510 32
Berlin    
Brandenburg 459 33
Bremen 448 18
Hamburg    
Hessen 476 18
Mecklenburg-Vorpommern 467 30
Niedersachsen 474  
Nordrhein-Westfalen 482 23
Rheinland-Pfalz 485 30
Saarland 484 13
Sachsen 491 28
Sachsen-Anhalt 455 24
Schleswig-Holstein 478 17
Thüringen 482 26

Scrollen Sie bitte, falls die Tabelle nicht vollständig angezeigt wird.

Lesekompetenz nach PISA (aus PISA 2000 Die Länder der Bundesrepublik Deutschland im Vergleich, Berlin, Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, 2002)
Kompetenzstufe I (Skalenwerte 335–407): Oberflächliches Verständnis einfacher Texte
Kompetenzstufe II (Skalenwerte 408–480): Herstellen einfacher Verknüpfungen
Kompetenzstufe III (Skalenwerte 481–552): Integration von Textelementen und Schlussfolgerungen
Kompetenzstufe IV (Skalenwerte 553–625): Detailliertes Verständnis komplexer Texte
Kompetenzstufe V (Skalenwerte über 625): Flexible Nutzung unvertrauter, komplexer Texte

Die Notwendigkeit, das Defizit der männlichen Schüler im Hinblick auf die Lesekompetenz durch entsprechende Fördermaßnahmen für Jungen zu verringern, wird inzwischen von vielen Bildungsforschern betont.

Aus dem Bildungsbericht unter „Allgemein bildende Schule und non-formale Lernwelten im Schulalter“  stammt das folgende Zitat:

Unterschiede nach Geschlecht

Mädchen zeigen in sprachlichen Fähigkeiten, insbesondere im Lesen, durchweg bessere Leistungen als Jungen, wobei kulturelle Unterschiede und Einflüsse des jeweiligen Schulsystems zu unterschiedlich starken Leistungsunterschieden in den Staaten führen.

Deutschland zählte in der Grundschulstudie IGLU/PIRLS im Jahr 2001 zu den Staaten mit vergleichsweise geringem Vorsprung der Mädchen, bei PISA 2003 hingegen zu den Staaten mit relativ großem Vorsprung. Auch wenn man den Vergleich auf die in beiden Studien vertretenen Staaten begrenzt (), wird deutlich, dass die geschlechtsspezifischen Kompetenzunterschiede in Deutschland im Primarbereich vergleichsweise gering sind, sich aber im Sekundarbereich deutlich verstärken.

Hier können zusätzliche Sozialisationseffekte in der Adoleszenz eine Rolle spielen, aber auch Effekte des Schulsystems. So wiederholen in Deutschland Jungen häufiger eine Klasse als Mädchen (…), und sie besuchen in der Sekundarstufe I eher Bildungsgänge mit niedrigeren Abschlüssen (..); beides verstärkt den Leistungsvorsprung der Mädchen. Die spezifische Förderung von Jungen ist ein noch nicht eingelöstes Desiderat der Leseerziehung in Deutschland. (Hervorhebung von MANNdat)

Lesemotivation von Jungen
Der wesentlich geringeren Lesemotivation von Jungen gegenüber der von Mädchen kommt eine wichtige Rolle in bezug auf die schlechteren Leseleistungen von Jungen zu.

Beim Vergleich der Leseleistungen von Jungen und Mädchen, die ein ähnlich großes Interesse am Lesen aufweisen, reduzieren sich die Unterschiede ganz erheblich; nimmt man noch verschiedene Indikatoren für Lesefreude hinzu, dann verschwindet der Einfluss des Geschlechts auf die Leseleistung fast völlig. [3]

Die geringere Lesemotivation von Jungen war den Fachleuten schon lange vor den PISA-Studien bekannt. Betrachtet man die Entwicklung des Leseindexes von den ersten Schuljahren zu den höheren Klassenstufen ist ein eklatanter Rückgang über die Jahre hinweg festzustellen, insbesondere bei den Jungen.

Daten aus Harmgarth, Friederike (Hrsg.) Lesegewohnheiten – Lesebarrieren. Schülerbefragung im Projekt „Öffentliche Bibliothek und Schule – neue Formen der Partnerschaft“. Gütersloh 1997

Der Leseindex ist ein Maß für die Lesegewohnheiten und ergibt sich aus Leseneigung und Lesehäufigkeit in der Freizeit. Laut PISA-Studie 2000 stimmten 52% der Jungen in Deutschland der Aussage zu, dass sie nur lesen, wenn sie müssen (OECD-Durchschnitt: 46%), während nur 26% der Mädchen in Deutschland dieser Aussage zustimmten (=OECD-Durchschnitt: 26%). [4].

Eine Untersuchung von Karin Richter und Monika Plath von der Universität Erfurt zur Entwicklung der Lesemotivation bei Grundschulkindern ergab, dass die Frage, ob der Deutschunterricht ihnen Spaß mache, in der zweiten Klasse noch 65,6% der Mädchen und 51,7% der Jungen in der 4. Klasse aber nur noch 40,5% der Mädchen und 28,6% der Jungen mit „sehr“ beantworteten. [5]

Veränderungen der Jungenleistungen von der PISA-Studie 2000 zu der PISA-Studie 2003

  • Im Bereich Mathematik verbesserten sich Mädchen (von 483 auf 499) und Jungen (von 498 auf 508), die geschlechtsspezifische Differenz zuungunsten der Mädchen nahm von 15 auf 9 ab (OECD-Durchschnitt: 11 Punkte).
  • Bei der Lesekompetenz gab es eine Verbesserung bei den Mädchen (von 502 auf 513), bei den Jungen gab es nur eine geringe Verbesserung (von 468 auf 471). Die Differenz in der Lesekompetenz zuungunsten der Jungen verschlechterte sich damit von 35 auf 42 (OECD-Durchschnitt: 34 Punkte)
  • In den Naturwissenschaften verbesserten sich Jungen (von 489 auf 506) und Mädchen (von 487 auf 500), die Differenz zuungunsten der Mädchen erhöhte sich gering von 2 auf 6.

Zur Info: Ein Unterschied von 60 Punkten bedeutet etwa einen Bildungsrückstand von einem Jahr. Daten aus [6]

Der positive Trend im Bereich Mathematik und Naturwissenschaften ist sehr erfreulich. Der Stillstand der Jungen und die Vergrößerung der geschlechtsspezifischen Differenz im Bereich Lesekompetenz ist jedoch enttäuschend. Im Jahr 2000 resümierte die OECD in ihrer ersten PISA-Studie:

Diese Ergebnisse zeigen, dass die schwachen Leistungen der Jungen eine ernste bildungspolitische Herausforderung darstellen, der besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden sollte, um geschlechtsspezifische Unterschiede abzubauen und den Anteil der Schülerinnen und Schüler auf dem untersten Leistungsniveau zu verringern. [7].

Im Jahr 2003 bezeichnete die OECD Jungenleseförderung als das primäre Bildungsziel weltweit [8]. Während Programme, wie z.B. SINUS, die mathematische Kompetenz anscheinend erfolgreich fördern und gezielt auch die geschlechtsspezifischen Unterschiede in Mathematik zuungunsten der Mädchen abbauen sollen, gibt es keine vergleichbaren Initiativen für den Bereich Lesekompetenz.

Zu den Ursachen der schlechteren Schulleistungen von Jungen
Wie im Abschnitt über den männlichen Lehreranteil dargelegt, ist der geringe Männeranteil wissenschaftlich weitgehend als eine Ursache für die schlechteren Leistungen der Schüler anerkannt. Wir möchten jedoch eindringlich davor warnen, die Probleme von Jungen allein auf das Fehlen männlicher Erzieher und Lehrkräfte zurückzuführen. Es gibt zwar eine deutliche, aber keine eindeutige Korrelation zwischen der Zahl männlicher Lehrkräfte und den Leistungen der Jungen.

Bemerkenswert sind in diesem Zusammenhang die Ergebnisse der IGLU-Studie für die Grundschule. Trotz eines sehr geringen Männeranteils am Lehrkörper zählt Deutschland in der Lesekompetenz zu den Staaten mit vergleichsweise geringem Vorsprung der Mädchen, während in der PISA Studie für die oberen Klassen (mit durchweg höherem Männeranteil) Deutschland zu den Saaten mit dem größten Unterschied zu Lasten der Jungen gehört.

Auch im internationalen Vergleich schneidet Deutschland in den Grundschulen deutlich besser als in der Sekundarstufe ab. In den unteren Klassen leistet das Lehrpersonal also offensichtlich eine gute Arbeit. Wirken sich fehlende Identifikationsfiguren in jüngeren Jahren erst in späteren Jahren auf die schulische Leistung aus oder sind die Lehrinhalte in der Grundschule geschlechtsneutraler ausgerichtet als in den oberen Klassen? Was läuft später schief und in welchem Umfang ist dafür überhaupt die Lehrerschaft verantwortlich zu machen?

Nicht nur das mangelhafte Engagement der Politik bei der Nachwuchsgewinnung von Männern in sozialen, erzieherischen oder pädagogischen Berufen (von Wortappellen in Sonntagsreden abgesehen), sondern auch die Tatsache, dass es keine verstärkten Anstrengungen gibt, weitere Ursachen der schlechteren Schulleistungen von Jungen und deren Wechselwirkungen untereinander zu finden, zeigt das Desinteresse der Politik an einer raschen Verbesserung der Situation für männliche Jugendliche.

Unserer Ansicht nach gibt es jedoch eine Reihe weiterer, möglicher Ursachen. Überprüft werden müsste (ohne Anspruch auf Vollständigkeit):

  • Der Einfluss, den die sukzessive Veränderung von Lehrplänen und Lehrmaterialien der letzen Jahrzehnte besitzt.
  • Der Einfluss, den insbesondere die Medien aber auch Schule und Politik durch die Verbreitung eines zunehmend zweifelhaften Männlichkeitsbildes auf die Identitätsfindung von Jungen haben. Vgl. [8]
  • Bei einer Untersuchung [9] wurde festgestellt, dass Jungen für dieselbe Leistung in Deutsch durchschnittlich eine Notenstufe schlechter bewertet wurden als Mädchen. Aus diesem Resultat folgten keinerlei Konsequenzen. Es ist zu überprüfen, inwieweit diese objektiv vorhandene und von den Jungen gefühlte Benachteiligung zu einer Demotivierung der Schüler führt, die sich später in tatsächlich schlechteren Deutschleistungen niederschlägt.
  • Die unterschiedliche Berücksichtigung von männlichen und weiblichen Jugendlichen mit Migrationshintergrund: So wurde in der Studie „Viele Welten leben“ des Bundesjugendministeriums aus dem Jahr 2004 ausschließlich auf die Situation von Frauen und Mädchen eingegangen. Eine vergleichbare Studie für männliche Mitbürger mit Migrationshintergrund gibt es nicht. Und auch in der aktiven Politik werden sie kaum berücksichtigt. Doch gerade in dieser Bevölkerungsgruppe gab es die schlechtesten Ergebnisse im Pisa-Test.
  • Untersucht werden muss auch der Einfluss der Familienpolitik, der Justiz und der Jugendämter. In Zeiten dramatischer Scheidungszahlen und vor dem Hintergrund mütterzentrierter Familiengerichte und Jugendämter verlieren immer mehr Kinder den Kontakt zu ihren Vätern. Die schlechte Stellung von Vätern bei Umgangsboykotten durch die Mütter verschärft die Situation [10]. Diese fehlende Identifikationsfigur im familiären Umfeld scheint Jungen deutlich mehr zu schaden als Mädchen. Es ist nicht gerechtfertigt, vom Lehrpersonal zu verlangen, dass es die Konsequenzen einer verfehlten Politik ausgleicht. Gesellschaftliche Missstände müssen von der Politik beseitigt werden, nicht von der Schule!

Die Bildungssituation aller Kinder und Jugendlicher, also auch die der Jungen und männlichen Jugendlichen muss ein ganz wichtiges Anliegen der Politik werden. Bildung ist einer der wichtigsten volkswirtschaftlichen Faktoren in Deutschland. Es ist bezeichnend, dass Bildungsförderung von Jungen überhaupt noch gefordert werden muss.

Warum bewegt sich die Politik bezüglich der Bildungsproblematik von Jungen kaum?

Die Glaubwürdigkeit von Geschlechterpolitik wird sich auch daran messen lassen müssen, wie weit sie bereit ist, die Bildungsbenachteiligung von Jungen zu bekämpfen. Hier jedoch bewegt sich die Politik sehr langsam, in vielen Länder sogar bestenfalls unmerklich, wie eine Studie von MANNdat [11] zeigt. Die Bildungsbenachteiligung von Jungen war schon in den 90er Jahren bekannt [12]. Der Öffentlichkeit bekannt wurde sie jedoch erst mit der PISA-Studie im Jahr 2000. Insofern ist die PISA-Studie ein wichtiger Wendepunkt in der Geschlechterpolitik, zeigte sie doch der Öffentlichkeit deutlich, dass Benachteiligungsbereiche sich nicht auf Frauen und Mädchen beschränken.

Dass es sich bei der Bildungsbenachteiligung von Jungen nicht nur um mittelbare Benachteiligungen sondern um unmittelbare Diskriminierung handelt, belegte nicht erst die IGLU-Studie 2005 [13]. Schon die erste PISA-Studie erkannte: „Beim Vergleich der Leseleistungen von Jungen und Mädchen, die ein ähnlich großes Interesse am Lesen aufweisen, reduzieren sich die Unterschiede ganz erheblich; nimmt man noch verschiedene Indikatoren für Lesefreude hinzu, dann verschwindet der Einfluss des Geschlechts auf die Leseleistung fast völlig. „Bei vergleichbarer Freude am Lesen sind also keine signifikanten Leistungsunterschiede zwischen Jungen und Mädchen zu erwarten. Diese Befunde weisen darauf hin, dass die Geschlechterdifferenzen im Bereich Lesen zumindest zum Teil durch Unterschiede in motivationalen Merkmalen vermittelt sind“ (PISA 2000, S.265)“ [14].

Im Bildungsbericht „Bildung auf einen Blick – 2006“ [15] wird zwar detailliert die Entwicklung in mädchen- und frauenspezifischen Problembereichen (z.B. Entwicklung weiblicher Studierenderzahlen oder Entlohnung) berücksichtigt. In dem gesamten 23-seitigen Bericht wird jedoch mit keinem einzigen Wort die jungenspezifische Bildungsproblematik oder die eklatante Negativentwicklung männlicher Studierenderzahlen erwähnt (siehe hierzu Kapitel „Arbeitsmarkt“).

Bezüglich geschlechtsspezifischer Erfassung weist das Statistische Bundesamt die Daten von Jungen in der Regel nicht gesondert nach, sondern beschränkt sich auf mädchenspezifische Daten. [16] Diese einseitige Darstellung der Bildungssituation nur von Mädchen steht nicht nur im Widerspruch zu Gender Mainstreaming, es zeigt dass von der Politik bislang noch kein ernsthaftes Interesse an einer Entwicklung der Bildungssituation von Jungen bestand.

Warum also sieht die Politik, die sonst bei einer Abweichung von der 50%-Quote zuungunsten von Mädchen und Frauen eine Diskriminierung sieht, die bekämpft werden muss, plötzlich bei der Bildungsbenachteiligung von Jungen kaum Handlungsbedarf? Das Bundesbildungsministerium reagiert auf die Benachteiligung von Jungen im Bildungsbereich nicht erkennbar, wie unsere o.g. Studie [17] zeigt. Kein Vergleich also z.B. zu Ländern wie Großbritannien, in denen Politiker/innen die Bildungsbenachteiligung von Jungen inakzeptabel finden [18]. In [19] ist zu lesen:

Im Juli 2003 bestreitet Waltraut Cornelißen, Leiterin der Abteilung Geschlechterforschung und Frauenpolitik am Deutschen Jugendinstitut in München, in der Frankfurter Rundschau keineswegs, dass „das Vokabular von Lehrerinnen mit dem der Jungen weniger korrespondiert als mit dem der Mädchen“ und die „Feminisierung“ durchaus die „sprachliche Entwicklung von Jungen hemmen“ könne. Doch unter Berücksichtigung aller Fakten auch auf Seiten der Mädchen wägt sie sozusagen geschlechterpolitisch ab: Ein Bildungsvorsprung sei „für junge Frauen vorläufig oft bitter notwendig, um auch nur annährend gleiche Chancen im Beruf zu haben.“

Die Bildungsbenachteiligung von Jungen gilt also bei vielen als „positive“, d.h. als „sozial gewollte“ Diskriminierung. „Wenn wir wirklich wollen, dass es unsere Töchter einmal leichter haben, müssen wir es unseren Söhnen schwerer machen.“ [20] und „die Anerkennung der Mädchen kann nur auf Kosten der kleinen Buben geschehen“ [21] postulierte der Feminismus in den 80er Jahren.

Aber ist es bei allem Verständnis für Frauenförderung gerechtfertigt, Jungen Bildung vorzuenthalten aus Gründen der Frauenförderung? Wir, vom Verein MANNdat e.V., meinen: Nein.

Die OECD veröffentlicht jährlich Bildungsberichte. Die OECD, die auch die PISA-Studien durchführt, ist eine Organisation, die immer wieder auch die jungenspezifischen Bildungsprobleme hinweist und diese in ihren Berichten auch darstellt. Das, was im nationalen Ableger des Bildungsberichtes „Bildung auf einen Blick“ im jeweiligen Land erscheint, ist das, was sich die bildungspolitisch Verantwortlichen – in Deutschland eben das Bundesbildungsministerium und die Kultusministerkonferenz – als für die Bildungssituation des jeweiligen Landes wesentlich heraussuchen. Die Tatsache, dass die jungenspezifischen Bildungsprobleme nicht in diesen nationalen Ableger des OECD-Berichtes übernommen werden, zeigt, dass die Bildungsproblematik von Jungen in Deutschland als nicht wesentlich gesehen wird.

Seite: 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10

Hat Ihnen der Artikel gefallen? Bitte unterstützen Sie unsere Arbeit mit einer Spende.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Bitte beachten Sie, dass Kommentare mindestens 5 und höchstens 1500 Zeichen haben dürfen.

Zitate können mit <blockquote> ... </blockquote> gekennzeichnet werden.

Achtung: Wenn Sie einen Kommentar von einem Smartphone verschicken, wird der Text manchmal von der Autofill-Funktion des Smartphones durch die Adresse ersetzt. Wenn Sie den Kommentar absenden, können wir den originalen Text nicht wiederherstellen.

Niemand mag Pop-ups!

Aber immerhin stehe ich nicht mitten auf der Seite. Wenn Sie sich für unseren Newsletter anmelden wollen, tragen Sie sich hier ein. Es lohnt sich!

Ihre Daten sind sicher! Die Email verwenden wir nur für den Newsletter. Sie können sich jederzeit abmelden.