Kinder ohne Gesichter

von Manndat

Der Schlüssel zur Ungleichbehandlung männlicher und weiblicher Gewaltopfer
Frau Vogler (DIE LINKE)
hat uns als einzige der angeschrieben Politikern nicht geantwortet. Aber ihre Ausführungen in der Aktuellen Stunde sind in unseren Augen der Schlüssel für das Verständnis der Ungleichbehandlung von Jungen und Mädchen als Gewaltopfer. Schauen wir nochmals auf ihre Aussage:

„Durch diese Entführung haben die gewaltsamen Konflikte in Nigeria erstmals große internationale Aufmerksamkeit erhalten; sie haben sozusagen 200 Gesichter bekommen“.

Hier haben wir den entscheidenden Unterschied. Die Gewaltverbrechen an Jungen wurden durchaus wahrgenommen. Wie schon bei unseren Anmerkungen zu den Ausführungen von Frau Weiß dargelegt, gab es zudem durchaus auch internationale Pressemeldungen zu den Gewaltverbrechen an den Schuljungen. Aber die Opfer hatten für die politisch Verantwortlichen und die Presse „kein Gesicht“. Ein Gesicht haben die Gewaltopfer von Boko Haram erst erhalten als Mädchen Gewaltopfer wurden. Was ist unter dieser Metapher zu verstehen?

Natürlich hatten auch die ermordeten Jungen ein Gesicht. Natürlich stehen hinter jedem ermordeten Jungen Angehörige, die um ihn trauern. „Ein Gesicht geben“ oder „ein Gesicht bekommen“ bedeutet, eine intensivere, eine personifizierte Wahrnehmung. Das bedeutet, die politisch Verantwortlichen, ebenso wie die Presse und die Gesellschaft, haben die weiblichen jugendlichen Gewaltopfer ganz anders wahrgenommen als die männlichen jugendlichen Gewaltopfer. Die entführten Mädchen wurden als Individuen wahrgenommen, mit denen man sich solidarisieren kann. Die ermordeten Jungen wurden nur als anonyme Masse wahrgenommen. Anders ausgedrückt: Die politisch Verantwortlichen haben für Jungen als Gewaltopfer eine geringere Empathie als für Mädchen.

Um das zu prüfen, machen wir ein Gedankenexperiment. Stellen wir vor, der Sachverhalt wäre umgekehrt. Im Juni 2013 hätte Boko Haram bei einem Anschlag auf eine Schule nicht 42 Jungen sondern 42 Mädchen ermordet. Und im September 2013 wären im College of Agriculture in Gujiba 44 junge Frauen anstatt 44 junger Männer ermordet worden. Im Februar 2014 wären 59 Mädchen anstelle 59 Jungen in einer Internatsschule von Boko Haram-Terroristen erschossen oder bei lebendigem Leib verbrannt worden, während man die Jungen anstatt der Mädchen freigelassen hätte. Im gleichen Monat hätte Boko Haram das Dorf Izghe überfallen, und dort 105 Mädchen und Frauen ermordet anstatt 105 Männer und Jungen. Im Mai und Juni 2014 hätte Boko Haram in verschiedenen Dörfern im Nordosten Nigerias etwa 400 bis 500 Frauen und Mädchen zusammengetrieben und dann erschossen und nicht 400 bis 500 Jungen und Männer.

Ist es vorstellbar, dass die politisch Verantwortlichen des Deutschen Bundestages diese Verbrechen lediglich stillschweigend zur Kenntnis genommen und die Verbrechen von Boko Haram erst dann thematisiert, wenn 276 Schuljungen entführt worden wären und sich auch dann konkret nur auf diese Entführung dieser Schuljungen bezogen hätte, während man die Ermordung der Frauen und Mädchen nicht ein einziges Mal konkret benannt hätte? Nein, das ist es nicht. Und hätten die Politiker Kritik an einer solch einseitig Mädchen und Frauen benachteiligenden Vorgehensweise als „Unterstellung“ bewertet? Auch dies sicher nicht.

Durch diese unterschiedliche Wahrnehmung wird auch verständlich, warum alle Abgeordneten, Frau Weiss, Herr Özdemir, Frau Bulmahn und Frau Vogler in ihren Reden nur das Entführen der Mädchen als konkretes Verbrechen nennen, während sie die ermordeten Jungen lediglich pauschalisiert in den Gesamtgewaltopfern subsummiert mit einfließen lassen und nicht einen einzigen konkreten Terrorakt nennen, der gezielt gegen Jungen – durchgeführt wurde.

Gleichzeitig beklagen die von uns angeschriebenen Politiker sich über eine angebliche Unterstellung, obwohl die Ungleichbehandlung von männlichen und weiblichen jugendlichen Gewaltopfern, wie oben beschrieben, ein eindeutig belegbares Faktum darstellt. Da sich die Politiker darüber beklagen, dass wir ihnen eine solche Ungleichbehandlung zum Vorwurf machen, lässt dies vermuten, dass sie sich dieser Ungleichbehandlung gar nicht bewusst sind. Das lässt wiederrum vermuten, dass die geringere Empathie gegenüber Jungen anscheinend so selbstverständlich ist und mittlerweile zum politischen Alltag gehört, dass diese Ungleichbehandlung von den Verantwortlichen gar nicht mehr als solche wahrgenommen wird.

Wenn diese Empathie abhängig von Geschlecht der Jugendlichen tatsächlich so „normal“ wäre, dass sie den Politikern gar nicht mehr richtig bewusst wird, wie wir dies schließen, dürfte zudem die Ungleichbehandlung von Jungen und Mädchen kein Einzelfall sein und müsste in anderen Themenfeldern ebenso wahrgenommen werden können. Gibt es andere Beispiele?

Es gibt sie zuhauf. Zum Beispiel in der geschlechterspezifischen Jugendförderung. Auf kommunaler Ebene existiert bis heute ein ausgeprägtes Defizit von Jungenförderprojekten im Vergleich zu Mädchenförderprojekten. Als Beispiel kann man hier Mannheim nennen, das eine Vielzahl renommierter Mädchenfördereinrichtungen unterhält, wie z.B. die bundesweite Mädchenwerkstatt oder eine Fachstelle für Mädcheninteressen. Auch nur annähernd ähnliche Aktivitäten um die berechtigten Anliegen und Belange von Jungen zu berücksichtigen, gibt es nahezu nicht.

Thema Bildung: Obwohl Jungen heute schlechtere Bildungsabschlüsse haben, stehen gut 100 staatlich unterstützten oder initiierten Mädchenbildungsförderprojekten lediglich drei staatlich unterstützte Jungenleseförderprojekte zur Seite, davon nur ein einziges – ein Flyer aus Sachen für Eltern und Lehrer– initiiert von der Bildungspolitik. Die Konsequenz davon ist, dass die geschlechterspezifischen Kompetenzunterschiede zuungunsten der Mädchen in den MINT-Bereichen (MINT = Mathematik, Informationstechnologie, Naturwissenschaften, Technik) abnehmen, während die ohnehin schon deutlich stärker ausgeprägten geschlechterspezifischen Lesekompetenzunterschiede zuungunsten der Jungen weiter zunehmen.

Obwohl männliche Migrantenjugendliche die größten Bildungs- und Integrationsprobleme in Deutschland haben, hat 2004 die Bundesregierung im Situationsbericht „Viele Welten leben“ ausschließlich die Situation weiblicher Migrantenjugendlicher betrachtet. Einen ähnlichen Bericht zur Situation männlicher Migrantenjugendlicher gibt es bis heute nicht.

Selbst bei dem Zukunftstag zum Vorstellen geschlechteruntypischer Berufsbereiche hat die Politik ganze zehn Jahre gebraucht, bis sie bereit war, Jungen eine gleichberechtigte Teilhabe zu gewähren.

Aber auch in der Entwicklungspolitik direkt gibt es solche Beispiele. Anlässlich des Weltkindertages am 1. Juni 2007 rief UNICEF mit Unterstützung der Politik in seinem Jahresbericht „Zur Situation der Kinder in der Welt 2007“ auf, Mädchen vor Benachteiligung, Diskriminierung und Gewalt zu schützen (UNICEF – Brief 1/2007). Für Jungen stellte man diese Forderung nicht.

Das sind nur einige wenige Beispiele von Ungleichbehandlungen von Jungen gegenüber Mädchen durch die Politik. Weitere kann man unserer Homepage www.manndat.de entnehmen.

Was die Politik ursprünglich als „positive Diskriminierung“ rechtfertigte, nämlich die Benachteiligung von Jungen aus Gründen der Mädchenförderung billigend in Kauf zu nehmen, ist schon seit langem nicht mehr gerechtfertigt, da seit vielen Jahren die Jungen und männlichen Jugendlichen die schlechteren Bildungsabschlüsse, die höheren Schulabbrecherquoten und die höhere Jugendarbeitslosenquote haben. Trotzdem besteht auch heute noch geschlechterspezifische Jugendpolitik nahezu ausschließlich aus Mädchenförderung. Man macht etwas Spezielles für Mädchen, lässt Jungen einfach weg und glaubt, damit das Thema Geschlecht abschließend behandelt zu haben. Die Ungleichbehandlung von Jungen als Gewaltopfer von Boko Haram ist deshalb keine Ausnahme, kein Sonderfall, sondern politische und gesellschaftliche Normalität. Das Marginalisieren und Benachteiligen von Jungen ist schon so selbstverständlich, dass dies den Verantwortlichen gar nicht mehr bewusst wird. Denn, so kommen wir zum Ergebnis, Mädchen sind für die politisch Verantwortlichen Kinder „mit Gesichtern“ und Jungen sind für die politisch Verantwortlichen

Kinder „ohne Gesichter“.

Quellenangaben

[1] Günther von Lojewski: Macht ohne Mandat. Neun Hauptsätze zum Journalismus, epd medien Nr. 20 vom 18. Mai 2012, S. 35ff.

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