Jungen und Geschlechterpolitik
Die Glaubwürdigkeit von Geschlechterpolitik wird sich daran messen lassen müssen, inwieweit sie sich den Bildungsproblemen von Jungen annimmt. Finden Jungen in der Geschlechterpolitik Berücksichtigung? Ein fundierter Beitrag aus dem Handbuch Jungenpädagogik. Von Dr. Bruno Köhler
Der Artikel ist zuerst erschienen in
Michael Matzner / Wolfgang Tischner (Hrsg.) Handbuch Jungen-Pädagogik
Beltz Handbuch; 2., erweiterte und aktualisierte Auflage 2012; ISBN 978-3-407-83171-2
448 Seiten; EUR 39,95
Das geschlechterspezifische Bildungsgefälle verlief in den 70er Jahren zuungunsten der Mädchen. Im Zuge der Frauenbewegung begann deshalb eine intensive Mädchenförderung (Krabel 1998, S. 10).
Ab Ende der 80er Jahre gab es, ausgehend von Frauenministerien und Frauenbeauftragten, von der kommunalen bis zur bundespolitischen Ebene eine flächendeckende Mädchenförderung. Für Jungen gab es in diesem Sinne kein Pendant. Jungen und Männer wurden auf die Rolle der Privilegierten und »Täter« reduziert und Männlichkeit pauschal abgewertet wenn nicht gar pathologisiert. Eine kritische Auseinandersetzung mit den Stereotypen »Frau/Mädchen = Opfer versus Mann/Junge = Täter« blieb ebenso aus wie ein Aufbegehren der Männer dagegen, auf die Täterrolle reduziert zu werden.
In den 90er Jahren manifestierten Gleichstellungsgesetze eine Ausrichtung der Geschlechterpolitik auf die »Frauenquote«, indem frauenspezifisch einzelfallbezogene Quoten in Behörden eingeführt wurden. Die »Bilanz der Chancengleichheitspolitik der Landesregierung (1998 – 2001)« in Sachsen-Anhalt ist typisch für die Zeit. Sie führt über 30 Frauen- und Mädchenförderprogramme auf, aber kein einziges Jungenförderprojekt. Einzige Ausnahme ist eine Beratungsstelle für gewalttätige männliche Jugendliche und Männer (MANNdat 2006, S. 12).
2001 rückte die Bildungspolitik in den Blickpunkt der Öffentlichkeit. Die Veröffentlichung der TIMSS (Third International Mathematics and Science Study) 1997 (Kerstan 1999) zeigte erhebliche Bildungsdefizite. Durch die erste PISA-Studie des Jahres 2000 wurde auch die breite Öffentlichkeit auf die Bildungsprobleme insgesamt und speziell bei Jungen aufmerksam.
Erstmals tauchte öffentlich die Frage auf, ob nicht auch Jungen benachteiligt sein könnten. Hinzu kam ein neuer Ansatz in der Geschlechterpolitik – Gender Mainstreaming. Dieser gibt vor, eine Geschlechterpolitik zu fördern, die die Belange beider Geschlechter berücksichtige. Tatsächlich empfahl schon im Jahr 2001 das Forum Bildung die Erweiterung des Berufswahlspektrums auf geschlechtsuntypische Berufe für Mädchen und Jungen (Forum Bildung 2001, S. 23 f.).
Im selben Jahr startete dann allerdings in Deutschland das größte geschlechterspezifische Jugendförderprojekt aller Zeiten – der bundesweite Zukunftstag, eben eine solche Maßnahme zur geschlechtsspezifischen Erweiterung des Berufswahlspektrums. Jungen wurden aber von Beginn an bewusst ausgegrenzt.
Eine gleichberechtigte Teilhabe von Jungen am Zukunftstag wird Jungen übrigens bis heute (2011) in Rheinland-Pfalz, Bremen und Mecklenburg-Vorpommern vorenthalten. In Mecklenburg-Vorpommern gab es zwar im Oktober 2011 einen ersten separaten »Jungstag«. Der Tag floppte jedoch, da 90 Prozent der Schulen gar nicht erst mitgemacht haben (Ostsee-Zeitung 2011).
2005 wurde noch von der rot-grünen Bundesregierung das Projekt »Neue Wege für Jungs« (NWfJ) implementiert. Es ist kein Bildungsförderprojekt sondern bezieht sich vorrangig auf die männlichkeitskritische Rollenbilddiskussion, die Berufswahlerweiterung und die Sozialisation von Jungen. Strukturelle Benachteiligungen von Jungen, z.B. auf Grund der tendenziell langsameren Entwicklung bei Sprachfähigkeit und Motorik, werden i.d.R. nicht thematisiert.
Das Projekt hat seine Stärken darin, dass es Jungen, die im Bildungswesen gescheitert sind und ihren Traumberuf nicht realisieren können, neue Perspektiven eröffnet. Das Netzwerk selbst besteht aus verschiedenen Einrichtungen, die Jungenarbeit oder Jungenförderung der verschiedensten Ansätze betreiben. Fragwürdig ist allerdings die »nichtidentitäre Jungenarbeit«, die ein »Dekonstruieren« von Männlichkeit zum Ziel hat und ein negatives Jungenbild kolportiert.
»Problematisch ist, wenn die Jungenarbeit von einem defizitären Männerbild ausgeht. Statt auf Jungen einzugehen und ihre Psychologie zu reflektieren, will man sie eigentlich umerziehen. […] Diese Jungenarbeit will in den Jungen eine kritische Distanz zu ›falschen männlichen Werten‹ entwickeln und versteht sich als emanzipatorisch, profeministisch und antisexistisch. […] Das Problem dieser Form von Jungenarbeit ist, dass sie nicht auf die Psychologie der Jungen eingeht. Sie lässt sich für ein ideologisches Ziel einspannen, leistet eigentlich keine wirkliche Jungenarbeit, sondern bietet ein Umerziehungsprogramm an. Wenn Massage statt Kämpfe, Kooperation statt Konkurrenz, Bescheidenheit statt Prahlen gefordert wird, dann werden typische Jungencharakteristiken pathologisiert.« (Guggenbühl 2006, S. 37).
Das Ziel einer solchen »nichtidentitären Jungenarbeit« ist nach dem Verein Dissens, einem der exzessivsten Vertreter dieses Ansatzes und Hauptakteure bei NWfJ, »nicht der andere Junge, sondern gar kein Junge.« (Pfister 2006).
»Einem Jungen, der selbstbewusst andere Auffassungen vom typischen Jungen- bzw. Mannsein als die Betreuer von Dissens vertrat, wurde gesagt, ›dass er eine Scheide habe und nur so tue, als sei er ein Junge‹«. Dissens rechtfertigte diese Vorgehensweise mit dem Erfordernis, Jungen deutlich zu machen, »›dass es vielleicht Dinge gibt, die nur scheinbar so sind, wie sie erscheinen‹. Das Beispiel zeigt, dass es eben nicht um den konkreten Jungen geht, der durch die ›irritierende Intervention‹ in seinen unmittelbaren Empfindungen verwirrt wird. Es geht vielmehr um eine Ideologie.« (Stiehler 2010, S. 45).
Die zusätzliche Verunsicherung von Jungen, denen die Gesellschaft ohnehin kein positives Selbstbild gibt, wird dabei in Kauf genommen. Das schadet vor allem labilen Jungs. Und in den starken Jungs wächst der Ärger und der Widerstand, was zum Beweis für die Richtigkeit des sanktionierenden Arbeitsansatzes gewertet werden kann – ein Teufelskreis.
Ohnehin herrschen an den Schulen heute oft noch die alten Stereotypen »Mädchen fördern, Jungen sanktionieren«. So ergab eine Studie der Universität Bremen 2007 unter den Lehrkräften noch mehrheitlich Meinungen wie:
»Ich denke, dass feministische Bemühungen immer noch in der Schule notwendig sind […].« oder »Jungen brauchen Grenzen und Mädchen brauchen Förderung. […] So dass ich den Jungen da eher einen drauf gebe […].«
Lediglich ein Lehrer sprach sich für Jungenförderung aus (Krämer 2007).
Dort, wo Jungenbildungsförderung stattfindet, resultiert sie eher aus der Initiative einzelner Akteure als aus einer konkreten Jungenpolitik in den Parteien, Ministerien oder Kommunen. Auf Landesebene ist z.B. das Jungenleseprojekt »Kicken und Lesen« in Baden-Württemberg ab 2006 zu nennen, das von der Baden-Württemberg-Stiftung finanziert wird. In Bayern gab es einen Arbeitskreis »Bubenförderung« im Bildungsministerium. Unter Führung der Kultusministerkonferenz durch die Bildungsministerin von Schleswig-Holstein, Ute Erdsiek-Rave (SPD), fand 2006 eine einmalige Konferenz zur Leseförderung von Jungen statt. In Baden-Württemberg führten 2007 die Grünen unter Renate Rastätter eine ebenso einmalige Initiative zu Bildungsförderung von Jungen durch.
Außer dem Projekt Kicken & Lesen ist von diesen Ansätzen wenig geblieben.
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