Jungen und Geschlechterpolitik

von Dr. Bruno Köhler

Verharmlosung der Bildungsmisserfolge von Jungen

Ab dem Jahr 2009 ist in der Bildungspolitik eine zunehmende Relativierung der Bildungsmisserfolge von Jungen zu erkennen. Im nationalen Bildungsbericht Deutschlands 2008 wird z.B. im Kapitel »Geschlechtsspezifische Bildungsverläufe« noch neben der Situation von Mädchen und Frauen auch explizit auf die Problemlage der Jungen hingewiesen:

»Die Analyse der geschlechtsspezifischen Disparitäten deckt eine Entwicklung auf, die in der öffentlichen Diskussion um die Benachteiligung von Mädchen und jungen Frauen kaum thematisiert worden ist: Das erhöhte Scheiternsrisiko von jungen Männern, […] ist in den letzten Jahren beträchtlich gestiegen. …

Auch die höhere Arbeitslosenquote von jungen Männern unter 25 Jahren ist ein ernst zu nehmender Hinweis auf diese Problemlage. Die geschlechtsspezifischen Aspekte der individuellen Bildungsverläufe müssen daher neu ins Blickfeld gerückt werden.« (Nationaler Bildungsbericht 2008, S. 212).

Zwei Jahre später, im nationalen Bildungsbericht 2010, beschränkt sich dieses Kapitel dagegen nur noch auf die Situation der Mädchen und Frauen. Eine Problematisierung der Bildungsrückstände der Jungen findet nicht mehr statt. Lediglich beim Mädchenanteil in Förderschulen lässt sich die Situation der Jungen erahnen:

»Nur 37 Prozent der Förderschüler sind weiblich […]. In keinem Förderbereich wird der weibliche Anteil unter den Schülern allgemeinbildender Schulen von insgesamt 49 Prozent erreicht. Im Förderschwerpunkt Sprache beträgt der Mädchenanteil nur 30 Prozent und unter den Schülern mit emotionalen und sozialen Entwicklungsstörungen sogar nur 14 Prozent.« (Nationaler Bildungsbericht 2010, S. 72).

Die Bildungsprobleme von Jungen werden oft verharmlost, indem behauptet wird, Jungen wiesen die besseren Berufschancen auf. Christel Humme (SPD) meint, männliche Jugendliche fänden trotz schlechterer Noten einen schnelleren Berufseinstieg (Humme 2010). Auch das Bundesjugendkuratorium (BJK) mutmaßte 2009 in einer Stellungnahme bessere Berufschancen für Jungen.

Das ist in dieser pauschalen Form schlichtweg falsch. Die männliche Jugendarbeitslosigkeit ist mittlerweile über 60 Prozent höher als die weibliche, in manchen Bundesländern, wie Bayern, sogar um über 80 Prozent höher, Tendenz steigend (Köhler, Krausser 2010). Dies wirkt sich auf die Psyche der Jungen selbst, aber auch auf den Gesamtarbeitsmarkt aus. Den »typischen Arbeiter« von früher, der trotz schlechter Bildung seine Arbeitskraft gewinnbringend verkaufen konnte, gibt es nicht mehr. Die Bundesarbeitsministerin von der Leyen 2009:

»Von 227 000 Menschen, die im vergangenen Krisenjahr ihren Job verloren, waren nur 10 000 Frauen. Arbeit wird weiblicher, bunter, älter.« (BMAS 2009)

Noch nie hat ein Arbeitsminister Arbeitslosigkeit so viel Positives abgewonnen. Eine weitere fragwürdige Relativierung der Bildungsprobleme von Jungen aus der Stellungnahme des Bundesjugendkuratoriums bezieht sich auf den Frühbereich:

»Beleuchtet man Geschlechterdifferenzen im Elementarbereich des Bildungswesens, so gibt es keine geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Bildungsbeteiligung und keine uneingeschränkten Belege für Entwicklungsunterschiede zugunsten der Mädchen im Kindergartenalter.« (BJK 2009, S.11).

Die nachfolgende Tabelle der ärztlich erhobenen Befunde bei Schulanfängern in Baden-Württemberg 2005 zeigt jedoch andere Fakten:

Eine ähnliche Untersuchung in Brandenburg ergab bei männlichen Schulanfängern im Bereich Sprach-, Sprech- und Stimmstörungen 12,1 Prozent, bei weiblichen Schulanfängern 7,3% Prozent Befunde. (Bildungsministerium Brandenburg 2007, S. 16). Die Jungenquoten in Sonderschulen betragen in allen Ländern über 60 Prozent. Dieter Lenzen kommt im Jahresgutachten 2009 des Aktionsrats Bildung zu dem Ergebnis:

»Beim Übergang auf das Gymnasium müssen Jungen eine deutlich höhere Leistung erbringen. Der Weg in die Berufsausbildung ist für Jungen erschwert… Von allen Schulabgängern ohne Abschluss sind 62 Prozent Jungen. Die einstige Bildungsbenachteiligung des katholischen Arbeitermädchens vom Lande wurde durch neue Bildungsverlierer abgelöst: die Jungen.« (Lenzen 2009).

2011 veröffentlichte die GEW die Studie »Bildung von Geschlecht«, erstellt von Thomas Viola Rieske im Auftrag der Max-Traeger-Stiftung, die unter namhaften Wissenschaftlern erheblichen Protest auslöste. Sie kritisierten die GEW in einem offenen Brief das »Sammelsurium an falschen Behauptungen, handwerklichen Fehlern, falschen Darstellungen, Auslassungen, unredlichen Darstellungen und ideologischen Interpretationen«, was zu dem Schluss führe, »dass die GEW mit dieser ›Studie‹ nicht nur versucht, die Benachteiligung von Jungen im deutschen Bildungssystem gegen alle Wirklichkeit, weg zu interpretieren, sondern dass die GEW auch versucht, die Fakten und vorhandenen Argumente, die von vielen Wissenschaftlern unter Bezug auf empirische Daten gesammelt wurden, zu diskreditieren.« (Klein 2011a).

Die Relativierung der Bildungsprobleme von Jungen ist umso fragwürdiger, wenn man berücksichtigt, dass schon seit Jahrzehnten immer wieder durch wissenschaftlich einwandfreie Studien belegt wird, dass Jungen bei gleichen Leistungen in Schulen schlechtere Noten bekommen als Mädchen. Das aktuellste Papier dazu ist die Studie »Herkunft zensiert?« aus 2011:

»Während die Ergebnisse aus standardisierten Leistungstests leichte Vorteile der Jungen aufzeigten, erreichten die Mädchen bessere oder gleich gute Schulnoten. … Bei gleichen Leistungen in den Tests wurden Jungen strenger bewertet als Mädchen.« (Maaz et al. 2011, S.74).

Auch wenn davon auszugehen ist, dass solche Ungleichbehandlungen unbewusst geschehen, ist dies eine eindeutige Diskriminierung, deren Ursachen man ergründen und beseitigen muss.

Es verwundert nicht, dass vor dem Hintergrund solch fragwürdiger Studien immer wieder Spekulationen als Fakten verkauft werden, wie z.B. dass vor allem Unterschichtsjungen von schulischen Nachteilen betroffen seien. Zwar führt eine Zugehörigkeit zur Unterschicht bei Jungen wie bei Mädchen dazu, dass sie seltener eine weiterführende Schule besuchen. Was die geschlechterspezifischen Unterschiede jedoch betrifft, ist die Benachteiligung von Jungen vor allem in der Mittelschicht zu finden, wie dies Rainer Geißler schon 2005 gezeigt hat:

»Die größten geschlechtstypischen Nachteile haben allerdings Jungen aus der gesellschaftlichen Mitte in Kauf zu nehmen.« (Geißler, 2005, S.87).

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