Jungen und Geschlechterpolitik
Politischer Handlungsbedarf
Jeder, der einen Blick in die öffentlich zugänglichen Bildungsstatistiken wirft, sieht sofort, dass Jungen die Bildungsverlierer sind: 8,0 Prozent der Jungen hatten 2009 in Deutschland keinen Schulabschluss. Bei den Mädchen sind es nur 5,2 Prozent. Dagegen erlangten 34,0 Prozent der Mädchen die allgemeine Hochschulreife, aber nur 26,6 Prozent der Jungen (Köhler 2011). In einer Gesellschaft, die Gleichstellung und Gleichberechtigung an Quoten misst, ist dies eine eindeutige Bildungsdiskriminierung von Jungen.
Wir haben gezeigt, dass es Nachteile, z.B. die tendenziell langsame motorische und sprachliche Entwicklung von Jungen, Benachteiligungen, z.B. das geschlechterspezifische Lesekompetenzgefälle zuungunsten der Jungen, ohne dass eine wirksame Jungenleseförderung stattfände, und konkrete Diskriminierungen von Jungen, wie z.B. das Zurücklassen von Jungen in der MINT-Förderung oder das Ausgrenzen von Migrantenjungen aus der »Bildungsoffensive«, gibt.
Es ist ebenso absurd wie verantwortungslos, wenn diese Tatsachen einfach ignoriert oder kurzerhand auf falsche Männlichkeitsbilder verkürzt werden, um sich selbst die Absolution für seine Untätigkeit zu geben, weil sie nicht in das politische Konzept passen. So bleibt schon seit Jahrzehnten eine Jungenbildungsförderung bewusst aus, obwohl es schon lange sinnvolle Ansätze dazu gibt. Wer Jungen fördern will, muss stärker auf ihre Anliegen, Belange und Interessen eingehen. Christine Garbe legt zur Jungenleseförderung dar:
»In dem hier angesprochenen Alter (8-14 Jahre) agieren Mädchen und Jungen besonders geschlechterstereotyp (i.S. des ›Doing Gender‹). Dies sollte in der Entwicklungsperspektive (pragmatisch) akzeptiert werden! …. Erlaubt ist was (den Kindern, nicht den LehrerInnen) gefällt« (Garbe 2011).
Doch das, was umgekehrt in der Mädchen- und Frauenförderung heute selbstverständlich ist, eben diese stärkere Berücksichtigung der für dieses Geschlecht typischen Psychologie, Interessen und Themen, wird Jungen beharrlich verweigert. Man argumentiert, solche Ansätze würden »schädliche« Geschlechterrollen festigen. Die gleichen Leute haben umgekehrt aber überhaupt keine Probleme damit, das Privileg einer Bildungsförderung, z.B. im MINT-Bereich, statt am individuellen Förderbedarf, am (weiblichen) Geschlecht festzumachen und damit Geschlechterrollen zu zementieren. Mittlerweile gibt es sogar spezielle technische Studiengänge nur für Frauen, um auf deren Belange gezielter eingehen zu können.
Dabei braucht es diesen Genderansatz gar nicht. Wer ernsthaft die Absicht hat, individuell zu fördern, was Schule und Bildungswesen ja seit Jahren beteuern (inklusive Schule!), kommt nicht daran vorbei, die Themenvielfalt und auch die Lernmethodenvielfalt deutlich zu erweitern, um möglichst viele Kinder und Jugendliche in ihren individuellen Interessen und Belangen anzusprechen. Dadurch bleibt es nicht aus, dass das Angebot auch auf jungentypische Bereiche erweitert werden muss. An der Jungenförderung wird man die Glaubwürdigkeit individueller Förderung deshalb ebenso messen können, wie die Glaubwürdigkeit von Geschlechterpolitik.
Betrachtet man die Bildungsnachteile und -benachteiligungen von Jungen und gleichzeitig die gewaltige Diskrepanz zwischen Mädchenförderung und Jungenförderung zuungunsten der Jungen, muss man zu dem Schluss kommen, dass der Abbau des geschlechterspezifischen Bildungsgefälles zuungunsten der Jungen politisch nicht gewollt ist. Geschlechterpolitik war und ist nichts anderes als Frauenquote und sonst nichts. Und pragmatisch gesehen ist jeder Junge, der im Bildungssystem scheitert, natürlich ein Gewinn für die Frauenquote. Daran hat auch Gender Mainstreaming, das ursprünglich ja beide Geschlechter gerecht wahrnehmen wollte, nichts geändert.
Wer Geschlechterpolitik allein auf »Lohndiskriminierung« und »Frauenquote« reduziert, schafft keine Gleichberechtigung, sondern neue Diskriminierung. Es ist schlichtweg Unsinn, zu behaupten, Jungen, die im Bildungssystem scheitern, bekämen »trotzdem die besseren Berufe«. Vielmehr werden sie zu Kristallisationspunkten zukünftiger sozialer Problemfelder.
Wenn sich nicht endlich die etablierten Parteien um echte, positive Zukunftsperspektiven für Jungen kümmern – und damit ist NICHT die bloße Ausbildung zum perfekten Hausmann und Billigjobber gemeint – werden sie zur leichten Beute von Organisationen, die nichts Gutes im Schilde führen. Noch ist Zeit zum Handeln.
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