Jungen und Geschlechterpolitik

von Dr. Bruno Köhler

Jungenlese(nicht)förderung

Einer der besten Belege für den mangelhaften Willen zur Jungenförderung ist die Jungenleseförderung oder besser gesagt, das Ausbleiben von Jungenleseförderung.

Schon die erste PISA-Studie im Jahr 2000 mahnte die schwachen Leistungen der Jungen als »eine ernste bildungspolitische Herausforderung« an, der »besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden sollte« (OECD 2001, S.151). Neun Jahre später, in der PISA-Studie 2009, sind die geschlechterspezifischen Unterschiede im Lesen von 35 auf 40 Punkte sogar noch angewachsen. Der Anteil der Jungen, die auf höchstem Leistungsniveau lesen können, sank von 2000 zu 2009 um fast die Hälfte von 7 Prozent auf 4 Prozent. Der Anteil der Mädchen blieb auf 11 Prozent. Nur noch 13 Prozent der Mädchen, aber noch 24 Prozent der Jungen gehören zu den Risikoschülern (Menke 2010).

Auch der EU-Bildungsbericht ›Geschlechterunterschiede bei Bildungsresultaten‹ konstatiert: »Der auffälligste Geschlechterunterschied in den Bildungsleistungen ist der Vorsprung der Mädchen im Lesen« (Eurydice 2010, S.11).

Das Bundesjugendkuratorium behauptete noch 2009, dass sich der »Leistungsvorsprung der Mädchen zwischen 2001 und 2006 nahezu halbiert« habe (Bundesjugendkuratorium 2009, S.11). Die PISA-Studie 2009 kommt zur Empfehlung:

»Da sich der Leistungsabstand zwischen Jungen und Mädchen aber größtenteils dadurch erklären lässt, dass Jungen weniger Leseengagement zeigen, und da Schüler mit einem geringeren Leseengagement auch niedrigere Leistungen erbringen, sollten die Politikverantwortlichen nach effizienteren Methoden suchen, um das Interesse der Jungen am Lesen in der Schule oder zu Hause zu steigern« (OECD 2009, S.14).

Es ist die gleiche Erkenntnis wie vor neun Jahren. Es bedarf lediglich einer Bildungspolitik, die sie umsetzen will.

Spezialfall »Jungen mit Migrationshintergrund«

2004 gab die rot-grüne Bundesregierung die Studie »Viele Welten leben« heraus (BMFSFJ 2004). Darin wurden ausschließlich die geschlechtsspezifischen Integrationsprobleme weiblicher Migrantenjugendlicher beschrieben und analysiert.

Im nationalen Integrationsplan beschränkte die schwarz-rote Regierung 2007 das Genderthema ebenso auf ein Kapitel »Lebenssituation von Frauen und Mädchen verbessern«. Im Themenbereich Integrationspolitik sieht der schwarz-gelbe Koalitionsvertrag 2009 lediglich eine Bildungsoffensive für weibliche Migrantenjugendliche vor:

»Wir wollen die Teilnahme zugewanderten Frauen und Mädchen aus allen Kulturkreisen am öffentlichen und gesellschaftlichen Leben fördern. Dafür brauchen wir eine Bildungs- und Ausbildungsoffensive für Migrantinnen«

(Bundesregierung S.77/132).

Eine solche Einseitigkeit findet sich auch auf Landes- und kommunaler Ebene wieder. Die Integrationspolitik aller Parteien ist also durch ein konsequentes Ignorieren männlicher Migrantenjugendlicher gekennzeichnet. Wie ist es möglich, dass politisch Verantwortliche, die zur Gleichberechtigung verpflichtet sind, wissentlich und bewusst die Klientel mit den größten Bildungsproblemen in Deutschland bei Bildungsoffensiven zurücklässt?

Strukturalisierung der Benachteiligung von Jungen

Auf Grund unserer föderalen Verfassung haben wir in Deutschland so viele bildungs- und jugendpolitisch Verantwortliche auf entscheidenden Positionen, wie kein anderes Land in der EU. Diese könnten sich der Situation von Jungen mit dem gleichen Engagement widmen, wie dies bei Mädchen der Fall ist, wenn sie den ernsthaften Willen dazu hätten. Warum lässt aber ein Land, das einen Fachkräftemangel beklagt, das Bildungs- und damit das Fachkräftepotential von Jungen dermaßen bereitwillig brachliegen?

Bildungsförderung von Jungen im gleichen Ausmaß wie für Mädchen wäre eine Weiterentwicklung der Geschlechterpolitik, die vielen missfällt. Sie missfällt dermaßen, dass das Thema sogar aus dem Entwurf des schwarz-gelben Koalitionsvertrages 2009 gestrichen wurde. Auch Christel Humme (SPD) meint eine »Rolle rückwärts« in der Geschlechterpolitik erkennen zu können, wenn diese sich nunmehr auch auf Jungen und Männer erweitere (Humme 2010).

Das Geld für geschlechtsspezifische Förderung liegt in den Händen einer Geschlechterpolitik, die auf die Frauenquote auf dem Arbeitsmarkt fixiert ist. Dass dort wenig Interesse besteht, die Geschlechterdiskussion zu entideologisieren und sie auf die Situation von Jungen zu erweitern, liegt auf der Hand. So warnt Monika Lazar, frauenpolitische Sprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion, ausdrücklich vor einer Jungenförderung (Schmollack, Lohre 2010).

Zwar hatte sich der Blick in den Medien zeitweise auch den Jungen zugewendet. Der EU-Bildungsbericht behauptete sogar:

»Das Gros der politischen Maßnahmen zur Beseitigung von geschlechtsspezifischen Leistungsunterschieden bezieht sich auf den Problemkomplex ›Underachievement von Jungen‹« (Eurydice 2010, S.13).

Projekte und Geld gibt es aber nach wie vor vorrangig für Mädchen. Dazu Susan Pinker:

»…alle Studien bestätigen: Wir müssen uns um den männlichen Nachwuchs kümmern. Wenn die Gender-Forschung nur ein Zehntel des Geldes, das sie bislang in die Förderung von Frauen investiert, den Jungen zugutekommen ließe, wäre viel erreicht« (Pinker 2010).

Auch die Verfasser des EU-Bildungsberichtes sind sich offenbar dessen durchaus bewusst. Denn am Ende kommt man dann doch zu dem Schluss:

»Ein Schwachpunkt der bestehenden Gleichstellungsmaßnahmen besteht möglicherweise darin, dass sie sich noch überwiegend auf die Gruppe der Mädchen konzentrieren« (Eurydice 2010, S.128).

Zumindest ein Teil der politisch Verantwortlichen scheinen die Bildungsbenachteiligung von Jungen im Sinne »positiver Diskriminierung« auch als gerechtfertigt zu sehen, was bedeuten würde, den Bildungsrückstand der Jungen mit all seinen Konsequenzen wegen eines politischen Programms bewusst in Kauf zu nehmen.

»Im Juli 2003 bestreitet Waltraud Cornelißen, Leiterin der Abteilung Geschlechterforschung und Frauenpolitik am Deutschen Jugendinstitut in München, […] keineswegs, dass ›das Vokabular von Lehrerinnen mit dem der Jungen weniger korrespondiert als mit dem der Mädchen‹ und die ›Feminisierung‹ durchaus ›die sprachliche Entwicklung von Jungen hemmen‹ könne. Doch unter Berücksichtigung aller Fakten auch auf Seiten der Mädchen wägt sie sozusagen geschlechterpolitisch ab: Ein Bildungsvorsprung ›sei für junge Frauen vorläufig oft bitter notwendig, um auch nur annähernd gleiche Chancen im Beruf zu haben‹« (Neutzling 2005, S. 75).

Oft enden Diskussionen zur Jungenbildungsförderung mit dem pauschalen Totschlagargument des geringen Frauenanteils in DAX-Vorständen. Die Privilegien einer Handvoll hoch bezahlter männlicher Topmanager werden dabei instrumentalisiert, um die pauschale Vernachlässigung von Jungen in der Bildung zu rechtfertigen. Die Bildungspolitik hat aber die Aufgabe, Jungen und Mädchen gleichermaßen optimal zu fördern.

Dort, wo Jungenförderung stattfindet, wird besonderer Wert darauf gelegt, Mädchen teilhaben zu lassen. Jungenförderprojekte sind deshalb i.d.R. nicht nur für Jungs, sondern sollen Jungen lediglich stärker ansprechen, ohne jedoch Mädchen auszugrenzen, z.B. das Projekt »ZeitungsZeit« in NRW (Schulministerium NRW 2009, S.9). Das ist verständlich.

Wie wir gesehen haben, nimmt man umgekehrt bei Mädchenförderung jedoch selten auf Jungen Rücksicht. Sie werden oft komplett ausgegrenzt, z.B. bei der Mädchenförderung im MINT- Bereich (MINT = Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik). Dadurch werden diejenigen Jungen, die in diesen Bereichen ebenfalls Förderung nötig hätten, bewusst zurückgelassen. In den Pädagogischen Hochschulen des Landes Baden-Württemberg z.B. wurden 2009 neun neue reine Mädchenförderprojekte im MINT-Bereich implementiert, unterstützt vom Land mit 1,5 Millionen Euro (Busolt 2010). Spezielle Jungenförderprojekte in den Pädagogischen Hochschulen sind dem Autor bis heute übrigens keine bekannt.

Der Feminismus der 80er Jahre hat keinen Hehl daraus gemacht, Mädchen auf Kosten der Jungen fördern zu wollen. So schrieb Marianne Grabrucker in »Typisch Mädchen« 1985: »[…] die Anerkennung der Mädchen kann nur auf Kosten der kleinen Buben geschehen« (Schmauch 2005, S. 29). In der Frauenzeitschrift EMMA hieß es 1986: »Wenn wir wirklich wollen, dass es unsere Töchter einmal leichter haben, müssen wir es unseren Söhnen schwerer machen« (Schmauch 2005, S. 29).

Die Ausgrenzung von Jungen aus Fördermaßnahmen ist heute so selbstverständlich, dass deren Diskriminierung gar nicht mehr zu Bewusstsein gelangt. Jungenausgrenzung ist deshalb heute nicht nur politisch korrekt, sondern gehört zum »guten Ton«. Sie ist gesellschaftlicher Konsens. Wäre es umgekehrt, würde man dies zur Recht als ›mädchenfeindlich‹ brandmarken.

Nicht ohne Grund werben heute viele Jugendhilfsorganisationen ausdrücklich mit reinen Mädchenprojekten in Dritte Welt-Ländern, obwohl ebenso Jungen von Kinderarbeit, Gewalt und Missbrauch als Kindersoldaten usw. betroffen sind. Diesen Organisationen ist bewusst, dass wir heute spendabler sind, wenn wir wissen, dass Jungen nicht profitieren können. Das sollte uns zu denken geben.

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